Frieda nickte, ihre Augen funkelten neugierig. „Und was hältst du von
ihm?“
Marta zuckte mit den Schultern. „Er wirkt freundlich. So wirklich viel
bekomme ich nicht mit, aber ich glaube, dass er das Leben zu genießen
weiß, so gerne, wie er sich mit schönen Damen und teuren Dingen umgibt.
“
Frieda musste schmunzeln. „Wusstest du, dass der Graf früher mit der
Baronin von Rosenbach verheiratet war? Sie ist 1923 in genau diesem See
ertrunken.“
Marta starrte sie mit aufgerissenen Augen an. „In diesem See? Woher
weißt du das?“
„Mein Opa Rudolph hat früher auf dem Schloss gearbeitet. Er hat mir
einiges erzählt. Über Graf Emil von Zynstein, seine Familie und auch,
dass der Graf 1914 als Offizier in den Ersten Weltkrieg zog. Das war das
letzte Mal, dass er seine Eltern sah. Ein Jahr vor Kriegsende
verunfallten beide tödlich mit ihrem Auto.“
Marta lauschte gebannt. „Wie schrecklich. Und wie war das dann, als der
Graf aus dem Krieg zurückkam?“
„Er hat alle alten Angestellten entlassen und sich neue gesucht. Mein
Opa war darüber ziemlich erzürnt. Er sagte, er hätte sich schwer in Emil
von Zynstein getäuscht. Er dachte immer, dass dieser ein gerechter und
dankbarer Mensch sei. Das glaubte er später nicht mehr und heute will er
von dem Grafen nichts mehr wissen.“
Die Mädchen schwiegen, während das Wasser sanft gegen den Steg schlug.
Marta lies nachdenklich ihren Blick über den See schweifen. „Ich bin
froh, hier zu arbeiten. Es ist schön, auch wenn vieles recht
geheimnisvoll erscheint.“ Sie puffte ihrer Freundin in die Seite. „Dann
muss ich wenigstens nicht die schwere Arbeit auf dem Feld erledigen, wie
du, Frieda.“
Frieda lachte. „Ja, es ist nicht immer leicht, aber schau her, was ich
für starke Arme habe.“ Sie zeigte ihre Muskeln. „Wir waren schon immer
auf dem Land tätig. Mein Vater, meine Mutter, nur Opa Rudolph nicht. Was
haben eigentlich deine Eltern gemacht, Marta?“
Marta wurde nachdenklich „Meine Eltern waren im Weinbau tätig. Wir
wohnten in der Nähe der französischen Grenze. Es war sehr idyllisch,
weißt du.“ Sie holte tief Luft. „Und dann kam der Krieg und die
Soldaten. Sie haben sich alles genommen, was sie wollten. Mein Vater hat
sich ihnen in den Weg gestellt. Sie haben ihn und meine Mutter eiskalt
erschossen. Allein Tante Ida und ich konnten flüchten“. Sie
schniefte.
An diese schlimme Zeit wollte sie lieber nicht denken. „Das ist jetzt
schon neun Jahre her. Und seit einem halben Jahr wohnen wir hier und
haben Arbeit gefunden. Und ich habe eine neue beste Freundin.“ Marta
schlang ihren Arm um Frieda.
Frieda lächelte traurig. „Wollen wir noch einen Spaziergang im Wald
machen?“
Marta schüttelte den Kopf. „Das dürfen wir doch nicht.
Der Wald ist Privateigentum des Grafen, da dürfen wir nicht einfach
wandern gehen.“
„Aber du arbeitest doch für ihn. Er wird schon nichts sagen, wenn wir
nur ganz kurz hinein gehen.“ Frieda grinste schelmisch.
„Na gut, aber nur ein paar Meter.“
Sie standen auf und gingen auf die Waldung zu. Die Eichenbäume
verströmten an diesem heißen Tag einen derart erholsamen Schatten, dass
es die Mädchen immer tiefer in den Wald hinein zog. Das Licht wurde
schwächer, das Gestrüpp dichter. Nachdem sie sich eine Weile
vorgearbeitet hatten, entdeckten sie in einer leichten Senke, ein altes
Gebäude. Es sah heruntergekommen aus. Das Dach hing in der Mitte durch
und über dem Türbereich wies es erhebliche Löcher auf. Der Putz
blätterte bereits von den Wänden. Die Fensterläden waren geschlossen.
Dieses kleine Haus, welches wie ein Gesindehaus wirkte, war von einem
mannshohen schwarzen Eisenzaun umgeben, der großflächig Rost angesetzt
hatte. Frieda zeigte auf das eiserne Tor im Zaun, welches einen Spalt
breit aufstand.
„Wenn wir den Bauch einziehen, müssten wir es schaffen“, rief sie Marta
zu und rannte los.
„Du kannst doch nicht einfach in ein fremdes Haus eindringen.“ Marta
wollte Frieda unbedingt davon abhalten, das Gelände zu betreten, doch
die hatte sich schon durch das Tor gezwängt und stand nun vor der
eichenen Eingangstür.
„Komm schon“, winkte Frieda Marta zu, „wenn wir schon einmal hier sind,
sollten wir uns das nicht entgehen lassen. Ich bin so neugierig.“ Dann
drückte sie die Klinke herunter und als die Haustür knarrend aufsprang,
trat sie ein.
„Oh mein Gott…“ flüsterte Frieda, ihre Stimme war kaum hörbar. Drinnen
empfing sie eine düstere Stille. Nur der Eingangsbereich unter dem
eingebrochenen Dach war klar erkennbar,denn dort warf die Sonne ein paar
Strahlen ins Innere des Gebäudes. In der Mitte des Hauses befand sich
eine breite Holztreppe, die zum Obergeschoss führte. Die unteren Stufen
waren eingebrochen und es roch muffig nach Schimmel. Frieda setzte einen
Fuß auf eine Stufe, doch das Holz war so feucht und morsch, dass die
Stufe schon bei einfacher Berührung zusammenbrach und polternd zu Boden
fiel. Erschrocken zuckte Frieda zusammen.
Dann spürte sie Martas Hand auf ihrer Schulter. „Nach oben sollten wir
besser nicht gehen, sonst brechen wir uns noch das Genick“, überzeugte
Marta sie.
Friedas Interesse richtete sich nun auf das rechte Zimmer, welches in
dem wenigen Licht, das vom Flur hineinfiel wie eine Küche erschien.
„Wir müssen die Fensterläden öffnen,“ entschied Frieda und schob
vorsichtig die schweren Holzläden auf. Nun fiel Licht in den Raum, und
Staub wirbelte auf. Die Küche war voll mit alten, verstaubten Töpfen und
zerbrochenem Geschirr. Überall lag Dreck. Die Möbel waren zerkratzt und
verfallen. „Hier ist alles so unheimlich,“ flüsterte Marta, während sie
vorsichtig mit der Hand Spinnweben von einem Küchenstuhl zog.
„Schau an, es gibt auch Kerzen und Streichhölzer“, Frieda zog ein
Einmachglas vom Regal. „Eine prima Idee, die Zündhölzer im einem Glas
aufzubewahren, da werden sie wenigstens nicht feucht“. Zu ihrer Freude
funktionierten die Streichhölzer noch und bald darauf lief sie mit einer
brennenden Kerze in das andere Zimmer, um auch dort ihre Neugierde zu
befriedigen.
Es dauerte eine Weile, bis sie in die Küche zurückkam, denn das Zimmer
hatte sich als Wohnzimmer entpuppt, in welchem sie durchaus interessante
Gegenstände entdeckt hatte. Sie wollte Marta gerade von ihrem Fund
berichten, doch diese war nicht mehr da. Die Küche war leer. Auch im
Flur war sie nicht. „Die Treppe nach oben konnte sie unmöglich genommen
haben, die war unbegehbar“, dachte Frieda. Sie biss sich auf die Lippe.
Mehrfach rief sie besorgt „Marta, Marta, wo bist du?“ Auch draußen vor
dem Haus, in der Küche und im Wohnzimmer rief sie. Es blieb still.
Dann bemerkte sie eine steinerne Kellertreppe, die von Küche aus abwärts
führte. Rasch lief sie die wenigen Stufen nach unten und gelangte in
einen großen, fast leeren Raum. Hier gab es nur einen wuchtigen Kamin,
vor dem ein kleiner Tisch mit zwei einfachen Holzstühlen stand, aber
keine Marta. Wieder und wieder rief Frieda den Namen ihrer Freundin, der
unbeantwortet von den Wänden widerhallte. Die Angst stand ihr ins
Gesicht geschrieben. Was sollte sie jetzt tun?
Es war bald 18 Uhr. Dann müsste sie daheim die Kühe melken. Hilfe konnte
sie schlecht holen, denn das Verweilen im Wald war zum einen nicht
erlaubt, zum anderen wusste sie auch nicht, wo sie Marta suchen sollte.
So beschloss sie, vorerst ins Dorf zurück zu kehren. Die ganze Nacht
durch konnte sie nicht schlafen. So in Sorge war sie um ihre Freundin.
Der Sonntagmorgen brach an. Die Sonne strahlte mit voller Kraft durch
die bunten Fenster der Kirche, in der sich pünktlich um acht Uhr die
ganze Gemeinde versammelt hatte. Frieda drehte sich nervös in ihrer
Sitzbank um, während ihre Augen das Mittelschiff absuchten. „Dank sei
Gott“, Frieda atmete erleichtert auf, als sie Marta zwischen den
Angestellten des Schlosses sitzen sah. Auch Marta hatte sie entdeckt.
Sie zwinkerten sich zu. Ein Zeichen, dass alles in Ordnung war.
Immerhin, denn ein Gespräch war leider nicht möglich, da die
Angestellten nach der Messe sofort ins Schloss zurückkehren mussten.
Diverse Gäste hatten sich angekündigt und die Vorbereitungen liefen auf
Hochtouren.
Elise, die Köchin, hatte sich bereit erklärt, Marta beim Herrichten des
Festsaals zu unterstützen. „Die lange Tischdecke muss exakt liegen,
sonst macht alles einen unprofessionellen Eindruck“, stellte Elise klar.
Sogleich drückte sie Marta das eine Ende der steifgebügelten Decke in
die Hand und wies sie an, rückwärts zu gehen, bis sie hinter dem Tisch
stand. Sie selbst schritt hinter das andere Tischende. Alsdann zogen
beide Frauen das Tuch in Spannung und ließen es gleichzeitig auf dem
Tisch nieder, so dass die Bügelfalte genau in der Mitte platziert war.
„Perfekt“, rief die Köchin erleichtert. „Schon beim ersten Mal. Marta,
du hast es wirklich drauf.“
Dann zeigte Elise Marta, wie man aus den Servietten herrliche
Papierrosen basteln konnte.
„Elise“, flüsterte Marta, während sie die Servietten faltete, „ich
arbeite nun fast ein halbes Jahr hier im Schloss und weiß noch immer
nicht, was alles zu diesem Anwesen gehört.“
Elise schob in jede Papierrose eine Kuchengabel. „Nun, es gibt dieses
Wasserschloss mit den Stallungen und der Zugbrücke, den See und die
angrenzenden Wälder und Felder. Das ist alles.“
„Das ist alles?“, Marta blickte sie erstaunt an. „Gibt es keine
Sommerresidenz oder Gesindeunterkünfte?“, wollte sie wissen.
Die Köchin schüttelte den Kopf. „Nein, Marta, dies ist nur das Schloss
eines Grafen, nicht das eines Fürsten. All den fürstlichen Prunk gibt es
hier nicht“
„Oh wie schade“, Marta zeigte sich enttäuscht. „Dann gibt es hier auch
keine speziellen Gänge für Bedienstete, wie in den Geschichten
englischer Adelshäuser? Du weißt schon, Gänge, die dazu dienen, dass die
Bediensteten den Adligen bei ihrer Arbeit nicht in die Quere kommen“,
fragte sie interessiert.
„Vergiss es“, winkte Elise ab. „Das alles existiert hier nicht. Aber
eines gibt es“, sie tat geheimnisvoll. „Ja?“, Martas Augen weiteten
sich. „Ja“, lachte Elise erneut. „Viel, viel Arbeit, die gibt es hier!“
Marta fand das weniger lustig.
„Komm Kind,“ forderte Elise sie auf, „wir müssen uns beeilen. Deck den
Tisch ein, ich muss zurück in die Küche“. Damit ließ sie Marta im
Festsaal alleine.
Zügig hatte Marta die Teller, Tassen und das Besteck akkurat eingedeckt.
Das Geschirr war fein gearbeitet und das Silberbesteck gab allem eine
glänzende Note. Als Marta die Kerzenständer ergriff, kamen die
Erinnerungen an den Vortag in ihr hoch.
Wie Frieda hatte auch sie eine der Kerzen in der Küche des Gesindehauses
angezündet, um ihrer Freundin nachzueifern. Sie hatte sich für die
Steintreppe in der Küche entschieden und war so in den Keller gelangt.
Obgleich dieser fast leer war, hatte er auf sie merkwürdig gewirkt. Erst
war es nur ein Bauchgefühl, doch dann hatte sie sich ernsthaft mit der
Frage befasst, warum in diesem Keller ein so großer Kamin stand. Mit
Hilfe der Kerze hatte sie den Kamin inspizierte und zu ihrer
Überraschung festgestellt, dass dieser nicht einmal einen Luftabzug
aufwies. Sie kroch sogar in den Kamin hinein, um dies zu überprüfen.
Voller Verblüffung registrierte sie dabei, wie die Kerze in ihrer Hand
seitlich zu flackern begann, als ob es einen leichten Windzug gab. Sie
kroch noch tiefer in den Kamin und gelangte durch einen kleinen Spalt
hinter dessen Rückwand. Zu ihrem Erstaunen erstreckte sich nun vor ihr
ein Tunnelgewölbe. Ihr Herz schlug schneller und die Freude, etwas
Geheimnisvolles entdeckt zu haben, trieb sie immer tiefer in den Tunnel.
Der Tunnel war in den Fels getrieben worden, er war ebenerdig, zugleich
aber nicht viel breiter als ein ausgewachsener Mann. Marta fühlte sich
wie in eine fremde Welt versetzt. Sie vergaß alles um sich herum,
insbesondere war ihr das Zeitgefühl vollständig abhanden gekommen.
Weiter und weiter schritt sie durch den Tunnel. Irgendwann endete der
Gang vor einer schweren Holztür.
Marta hatte keine Ahnung, was sie hinter dieser Tür erwarten würde. Die
Ängstlichkeit, die sie sonst umgab, war der Neugier gewichen, zu
erfahren, was sich dort verbergen konnte.
Achtsam drückte sie die Klinke und war verdutzt, als die Tür sich
seitlich öffnete und den Zugang zu einem schmalen Flur frei gab.
Abgestandene Luft schlug ihr entgegen. Ihrem inneren Gefühl folgend,
durchschritt sie die Tür, um voller Schrecken miterleben zu müssen, wie
diese umgehend hinter ihr ins Schloss fiel und in einer Holzvertäfelung
verschwand. Das Knarren des Holzes hallte in der Stille nach. Martas
Atem stockte. „Verdammt,“ fluchte sie. Sie erhob ihre Fäuste und schlug
auf die Stelle, an sich gerade noch die Tür befunden hatte, doch nichts
geschah. Auch konnte sie in der Vertäfelung die Umrisse der Tür nicht
mehr erkennen. Kein Hinweis auf eine Tür, kein Riss, kein Knauf. Nur
glatte Holzvertäfelung.
„Wo um Himmels Willen ist die Fluchttür hin?“, murmelte Marta
verzweifelt. Ein kalter Schauder lief ihr den Rücken hinunter. Der
Rückweg war ihr versperrt. Sie musste sich somit im Flur orientieren.
Nur das Licht der Kerze, die inzwischen nicht mehr als ein kleiner
Stumpf in ihrer Hand war, gab ihr Orientierung. Fenster besaß dieser
Raum nicht. Stattdessen erblickte sie fünf schmale Türen. „Viel Zeit
habe ich nicht. Die Kerze ist fast abgebrannt,“ dachte Marta. „Welche
Tür soll ich nehmen?“ Marta atmete tief durch und presste die Klinke der
rechten Tür herunter. Fast lautlos schob sich diese zur Seite und gab
den Anblick auf eine Vielzahl von Regalen frei, die vom Boden bis an die
Decke mit Büchern gefüllt waren.
„Das ist unfassbar“, schoss es leise aus ihr heraus, wobei sie spontan
die Hände vor den Mund schlug. Sie kannte diesen Ort. Es war die
Bibliothek des Schlosses von Zynstein. Ein Lächeln huschte über ihre
Wangen. Sie pustete die Kerze aus und schob den Stumpf in die Tasche
ihres Kleides.
„Jetzt ist alles wieder gut“, dachte sie und betrat erleichtert den
Büchersaal. Sie überlegte kurz, durch welche der Türen sie den Saal
verlassen sollte. Die rechte Tür führte zum Büro des Grafen, durch die
linke Tür würde sie direkt in die Eingangshalle gelangen, während die
mittlere Tür in den Blauen Salon mündete. Aus dem Blauen Salon ertönte
die Stimme des Grafen. Marta fing an zu zittern. Im Nu erinnerte sie
sich wieder, an die Anweisungen ihres Arbeitgebers. „Es ist dem Personal
untersagt, sich in der Bibliothek oder meinem Büro aufzuhalten, wenn ich
nicht anwesend bin. Dort gibt es wertvolle Bücher, die nicht gestohlen
werden dürfen. Daher schließe ich diese Räume auch immer hinter mir ab“,
hatte er sie immer wieder gelehrt. Das Blut wich ihr aus dem Gesicht,
als sie begriff, dass sie keine der drei Türen würde nehmen können.
Eilig drehte sie sich um, um zurück auf den Flur zu gelangen, von dem
aus sie das Zimmer betreten hatte. Doch auch diese Tür hatte sich schon
wieder geschlossen und seine Umrisse waren in der Holzvertäfelung
verschwunden.
Panisch tasteten Martas Finger die Holzvertäfelung ab. Vielleicht gab es
einen Knopf, einen versteckten Mechanismus. Ihre Finger glitten über das
Holz, suchten nach einem Hinweis. Doch vergebens.
Da fiel ihr Blick auf ein Gemälde an der Wand. Es zeigte einen ergrauten
Mann in Uniform. „Das musste wohl der Großvater des Grafen sein“,
schlussfolgerte Marta. „Was für ein imposanter Herr“, dachte sie und war
von dem Bild ganz fasziniert. Ihre Finger glitten vorsichtig über das
Gemälde. Dann erschrak sie, denn auf einmal wies das Kinn des alten
Mannes einen fiesen grauen Strich auf.
„Was ist das?“ Marta starrte auf ihre Finger. Wie schmutzig sie waren.
„Dreck vom Tunnel!“
In Panik griff sie nach dem Gemälde, um es zu reinigen. Dabei entdeckte
sie eine kleine Macke in der Vertäfelung hinter dem Bild.
„Das ist es!“, sprach sie sich Mut zu.
Mit ihrem Zeigefinger ertastet sie den sonderbaren Fleck. Wie von
Geisterhand öffnete sich die Geheimtür. Geistesgegenwärtig schob Marta
einen Fuß in den Türspalt, hängte geschwind das Bild zurück und schob
sich in den dunklen Flur, bevor sich die Tür wieder schloss. Erleichtert
holte sie Luft. Auch wenn sie keine Streichhölzer mehr hatte, um die
Kerze anzünden, wusste sie nun, wo sie in dieser Dunkelheit weitere
Türen finden konnte.
Langsam glitt ihre Hand an der Wand entlang. Die bedrückende Stille
wurde abrupt durch Rufe des Grafen unterbrochen. Marta horchte. Der Graf
schien sich gerade in der Bibliothek zu befinden.
„Ich schaue eben in meinen Unterlagen nach“, rief er jemandem zu.
Dann hörte Marta Schritte und vermutete, dass der Graf sein Büro
aufgesucht hatte. Allmählich wurde ihr bewusst, wie dünn die Wände zu
diesem Geheimflur sein mussten. Womöglich könnte der Graf auch sie
hören, wenn sie sich nicht mucksmäuschenstill verhielte. Sie wagte kaum
zu atmen oder sich zu bewegen.
Nach schier unendlicher Zeit hörte sie, wie eine Tür zugeschlagen und
abgeschlossen wurde. Der Graf musste in den Blauen Salon zurückgekehrt
sein, schlussfolgerte Marta.
Vorsichtlich drückte sie sich rücklings an die Wand und schob sich
seitlich den Gang entlang bis sie die Klinke der äußersten linken Tür zu
Fassen bekam. Nach ihren Berechnungen musste sie sich nun unweit der
Küche befinden. Behutsam drückte sie die Klinke herunter und gelangte so
unerkannt auf die Treppe des Hinterhauses.
„Kannst du nicht aufpassen, Marta“, der Diener Ferdinand war in den
Festsaal getreten und hatte durch sein schnelles Eingreifen gerade noch
drohendes Unheil abgewandt. Voll in Gedanken hatte Marta eine der
kostbaren Zuckerdosen ergriffen und haarscharf vor der Tischkante
absetzen wollen. Mit einem eleganten Hechtbagger schob Ferdinand seine
Hand unter die Dose und verhinderte so Schlimmeres.
„Wow“, Marta war wieder voll da. „Ferdinand, das war sagenhaft. Das
hätte ich dir gar nicht zugetraut in deinem Alter“, sie strahlte ihn
dankend an.
„In meinem Alter? Junge Dame, ich bin noch keine 30!“, Ferdinand klang
etwas beleidigt. Dann ermahnte er sie „Marta, wo hast du wieder deinen
Kopf? Geh lieber den anderen zur Hand. Ich erledige hier schon den
Rest.“ Damit schickte er sie davon.
Marta versuchte alsdann, sich auf das Staubwischen im Treppenhaus zu
konzentrieren. Ihre Hände zitterten leicht. Immer wieder schielte sie
auf die Vertäfelung an der Rückwand, auf der Suche nach einem geheimen
Knopf. Das alles war so spannend und aufregend. Sie musste sich
unbedingt mit jemandem hierzu austauschen.
Endlich läuteten die Glocken das Wochenende ein. Pünktlich um 18 Uhr
legte Marta ihre Dienstschürze ab und überquerte die Zugbrücke in die
Stadt. Die ganze Woche hatte sie schon überlegt, was sie Frieda alles
erzählen würde, doch als sie nun die Klingel der Familie Buckenstette
drückte, schien niemand zu Hause zu sein. Enttäuscht nahm Marta auf den
Stufen vor dem kleinen Häuschen Platz. Sie war noch immer am Grübeln, wo
sie Frieda finden konnte, als ein betagter Mann auf einem Fahrrad auf
sie zukam.
„Suchst du jemanden“, rief er ihr freudig zu und stieg vom Rad. „Ich
suche meine Freundin Frieda. Wissen Sie, wo sie ist?“, neue Hoffnung
keimte in ihr auf.
„Die ist noch auf der Weide. Das kann heute spät werden. Was möchtest du
denn von ihr, wenn ich fragen darf.“
„Ich bin Marta, eine Freundin. Ich wollte mit ihr reden“, antwortete sie
niedergeschlagen.
„Aha, Marta. Dann weiß ich, wer du bist. Du bist das Dienstmädchen aus
dem Schloss, nicht wahr? Frieda hat mir viel von dir erzählt. Ich bin
übrigens ihr Opa.“, stellte der Herr klar.
„Sie sind Rudolph Buckenstette?“, Marta riss ihre Augen weit auf.
„Frieda sagte, dass Sie auch einmal auf dem Schloss gearbeitet haben,
ist das wahr?“
Rudolph nickte. „Das stimmt. Wolltest du darüber sprechen?“
Martas Gesicht fing an zu leuchten. „Wenn ich darf?“
„Klar darfst du. Komm, wir gehen ins Haus. Das muss ja nicht jeder
mitbekommen“.
Als Rudolph in einem Schaukelstuhl Platz genommen hatte, konnte Marta,
die mit einer heißen Milch auf dem Sofa saß, nicht mehr an sich halten.
„Wenn Sie auf dem Schloss gearbeitet haben, kennen sie die
Geheimtüren?“, sie beugte sich zu ihm vor, um kein Wort zu verpassen.
Rudolph schmunzelte. „Ach, darum geht es. Was weißt du denn schon?“
Marta erzählte von dem Gesindehaus im Wald, dem Tunnel, der zum Schloss
führte und dem geheimen Flur mit den fünf Türen.
Rudolph streckte seinen Zeigefinger aus und deutete mehrmals in ihrer
Richtung. „Junges Fräulein, da bist du sicherlich eine der ganz ganz
wenigen Menschen, die von diesem Geheimnis wissen.“
Marta grinste. „Das glaube ich auch. Ich habe unsere Köchin, die Elise,
ausgehorcht. Die weiß nichts von all dem.“
„Das hätte mich auch gewundert, wenn der Graf seine neue Mannschaft
darüber informiert hätte.“ Rudolph klang nachdenklich.
„Was meinen Sie mit „neuer Mannschaft““, wollte Marta wissen.
„Pass auf“, schlug Rudolph vor. „Freunde von Frieda sind auch meine
Freunde. Und meine Freunde Duze ich. Wenn du auch bereit bist, mich zu
duzen, dann erzähle ich dir das ganze Geheimnis.“ Er blickte Marta an,
die begeistert nickte.
Dann legt er seinen Zeigefinger auf den Mund und sagt: „Was ich dir
sage, ist streng vertraulich. Wenn ich noch als Diener dort angestellt
wäre, würde ich es dir nicht erzählen, aber ich denke, bei all dem, was
ich für den Grafen und seine Familie getan habe und was mir überhaupt
nicht gedankt noch finanziell entlohnt wurde, muss ich nicht länger
loyal bleiben. Das ist und bleibt aber ein Geheimnis und geht keinen
Dritten an, verstehst du?“ Marta nickte gespannt.
„Nun gut“, fuhr er fort, „dann hör gut zu. Das Schloss von Zynstein hat
mich im Grunde mein ganzes Leben begleitet. Schon mit 16 Jahren habe ich
dort als Stallbursche angefangen. Über die Jahre hinweg konnte ich mich
bis zur Position des Dieners hochgearbeitet. Insgesamt war ich über 50
Jahre auf dem Schloss tätig. Zuletzt diente ich unter Otto von Zynstein
und seiner Frau Clara. Das waren herzensgute Menschen. In der
Eingangshalle des Schlosses hängen noch ihre Bilder. Es waren die Eltern
des jetzigen Grafen.“ Er trank einen Schluck Rotwein.
„Was den Tunnel angeht," er rieb sich das Kinn, als hätte er Bedenken,
hierüber zu sprechen. Doch dann hob er seine Stimme wieder an und setzte
fort, „der Tunnel wurde im letzten Jahrhundert als Fluchtweg gebaut, da
man das Wasserschloss ja nur über die Zugbrücke verlassen kann.
Spätestens seit der Revolution in 1848 auf 1849 war den Adligen bewusst
geworden, dass es mehr und mehr Kräfte im Land gab, die die feudalen
Strukturen und Sonderrechte abschaffen wollten. Daher haben sie sich auf
das Schlimmste vorbereitet und deshalb entstand auch dieser Tunnel.
Sollte das Schloss angegriffen werden, konnten sie so unterirdisch
entkommen. Das war die Idee. Als Graf Emil noch klein war, war das
Gesindehaus im Wald sein Lieblingsplatz. Er konnte stundenlang im
Obergeschoss sitzen und philosophieren, schreiben und Bücher lesen. Wenn
er zum Abendessen noch nicht zurück war, hat mich die Gräfin durch den
Tunnel geschickt, um ihn zu holen. Ich habe den Jungen wirklich gern
gehabt. Er war so klug und warmherzig, fast wie ein eigener Sohn. Aber
seit er aus dem Krieg zurück ist, ist er wie verändert.“, Rudolphs
Gesicht wurde ernst.
„Verändert, was meinst du damit?“, wollte Marta wissen.
„Schau, als Emils Eltern 1917 mit ihrem Mercedes bei Blankenheim tödlich
verunglückten, war keiner der von Zynsteins mehr auf dem Schloss. Emil
war als Offizier im Krieg und die Angestellten erhielten keinen Lohn
mehr. Von wen auch? Fast alle verließen folglich das Schloss. Vom
Personal blieben nur der Gustav und ich. Wir waren damals schon über 65,
hatten eigene Familien, die wieder eigene Familien gegründet hatten. Da
meine Frau nicht mehr lebte und dem Gustav die Frau weggelaufen war, gab
es für uns keinen Grund, das Schloss zu verlassen. Allein aus Loyalität
blieben wir dort und umsorgten alles, so gut es ging.“
„Wenn ihr keinen Lohn mehr bekommen habt“, wollte Marta wissen, „wovon
habt ihr dann gelebt?“
„Wir haben im Schlossgarten einen Gemüsegarten angelegt, im See Fische
geangelt und mit dem Holz aus dem Forst des Grafen geheizt. Wenn man
keine hohen Ansprüche hat, geht das schon. Dann aber war der Krieg
vorbei und wir erhielten ein Einschreiben von einem Anwalt. Darin stand,
dass wir auf dem Schloss nichts zu suchen hätten und wenn wir noch auf
dem Anwesen wären, wenn Graf Emil zurückkäme, würden wir wegen
Hausfriedensbruch ins Gefängnis geworfen werden.“ Rudolph musste eine
Pause einlegen. Es war offensichtlich, wie sehr ihn das noch mitnahm.
„Das klingt wirklich undankbar“, regte sich Marta auf.
„Marta, ich war nie im Krieg. Ich weiß nicht, was der Emil dort
durchgemacht hat. Aber der Krieg hat die Seele vieler Menschen
zerfressen und es gibt auch hier in der Straße Männer, die stark
verändert nach Hause zurückgekehrt sind, wenn sie überhaupt
zurückgekommen sind. Man muss ihnen zu Gute halten, dass sie das Land
verteidigt haben, auch wenn wir letztendlich den Krieg verloren haben.
Es bringt nichts, darüber zu reden. Ich habe für meinen Teil Frieden
geschlossen, mit den von Zynsteins, aber mit Emil möchte ich nie wieder
etwas zu tun haben. Verstehst du?“
Marta schluckte. War der Graf doch nicht der freundliche Mensch, wie sie
bisher gedacht hatte? Sicherlich, er hatte strenge Regeln aufgesetzt,
die eingehalten werden mussten. Im Umgang mit seinen Gästen wirkte er
bisher aber immer liebenswürdig und großzügig.
„Rudolph, wie funktioniert das eigentlich mit den Geheimtüren? Bislang
habe ich nur den Mechanismus für die Tür zur Bibliothek gefunden. Wo
muss ich den Knopf für die anderen Türen suchen und vor allem, wie
öffnet man die Tür vom Schloss zum Tunnel?“
Rudolph quietschte vor Vergnügen. „Hast du doch noch nicht alle
Geheimnisse geknackt? Tja, das ist nicht so einfach.“ Er malte ihr kurz
auf, wo sich die Knöpfe in den jeweiligen Zimmern befanden. „Und nun das
Wichtigste. Hör gut zu. Jede Tür hat ein kleines Guckloch, durch das man
in den Raum schauen kann. Wenn du somit im Geheimflur stehst, achte auf
die kleinen Engelchen, die in die Vertäfelung geschnitzt sind. Du musst
einen Magneten von rechts nach links über die Engel schieben, dann
öffnet sich das kleine Loch. Schiebst du den Magneten anders herum,
schließt sich das Loch wieder. Denselben Magneten verwendest du auch für
die Tür zum Tunnel. Suche auch dafür nach dem Engel in der
Holzvertäfelung. Hast du alles verstanden?“
Marta nickte und wollte den Zettel an sich nehmen.
„Nein Marta, das alles ist und bleibt unser Geheimnis. Das darfst du
niemandem erzählen. Auch Frieda nicht. Schwöre es mir.“
Mit diesen Worten zündete er ein Streichholz an und verbrannte den
Zettel.
Nachdem Marta den Schwur geleistet hatte, holte Rudolph noch einen
Magneten für sie. Diesen in der Jackentasche verabschiedete sie sich und
eilte zurück auf das gräfliche Anwesen, auf dem es noch viel zu
entdecken galt.
Selten zuvor hatte man Marta so emsig staubwischen gesehen, wie an
diesem Samstag. Einem jeden schien sie Arbeit abnehmen zu wollen. Selbst
dem Küchenmädchen Alma bot sie an, das Schrubben der Küche abzunehmen.
Natürlich ließen die anderen sie gewähren, da sie selbst so früher
Freizeit hatten. Doch Marta tat all dies nicht nur aus Nächstenliebe.
Sie suchte nach Gründen, um länger unbeobachtet Zeit in all den Räumen
verbringen zu können, die an den Geheimflur grenzten.
Und so fiel sie, als sich die Sonne neigte, zwar total erschöpft, aber
dennoch selbstzufrieden ins Bett. Sie hatte alles, was Rudolph ihr
erklärt hatte, mehrfach ausprobiert, alle Geheimtüren, alle Gucklöcher
und die die schwere Holztür zum Tunnel. Zudem hatte sie im Geheimflur
vor jede Tür weißen Pfeffer verstreut, um zu testen, ob der Graf die
Geheimtüren nutzte.
Der Sonntagmorgen schien sich endlos in die Länge zu ziehen. Jagdfreunde
des Grafen waren zu einem späten Frühstück eingeladen worden und es
galt, ein üppiges Barbecue vorzubereiten.
Erst als sich die Gäste gegen 15 Uhr verabschiedeten, bekamen auch die
Bediensteten ein paar Stunden frei. Marta zog es erneut in den Wald. Da
sie Rudolph versprochen hatte, Frieda nichts vom Tunnel zu erzählen,
lief sie allein zu dem Gesindehaus.
„Wie komme ich nur in das Obergeschoss?“, Marta hatte die Tür des
Gesindehaus geöffnet und starrte auf die morsche Treppe, die nach oben
führte.
„Vielleicht sollte ich mich am Treppengeländer entlang hangeln“, kam ihr
in den Sinn. So schwang sie ihre Hände um den hölzernen Lauf und war
gerade dabei, die Füße auf die äußerste Kante der Treppe zu setzen, als
mit einem lauten Krachen das vordere Teil des Geländers abbrach und
Marta rücklings gegen die Wand geschleudert wurde. Zum Glück schlug sie
mit ihrem Hintern zuerst auf den Boden auf, wodurch der Schlag etwas
abgefedert wurde. Offensichtlich funktionierte ihre Idee nicht. Die
Treppe war einfach zu morsch, um über sie nach oben zu gelangen. Marta
trat ins Freie hinaus. Dabei suchten ihre Augen krampfhaft nach
Alternativen. Die Bäume standen nicht nah genug am Haus, als dass sie
sinnvoll für einen Aufstieg genutzt werden konnten. Erneut scannten
Martas Augen das gesamte Gebäude ab.
„Schau an, da gibt es einen Schornstein“, stellte sie fest und hatte
kurz darauf in Erfahrung gebracht, dass der Schornstein mit dem offenen
Kamin in der Küche verbunden war. Im Gegensatz zu dem Kamin im Keller
hatte dieser Kamin in der Tat einen Abzug nach oben, nur war er leider
zu schmal für sie.
„Wie haben die früher den Kamin wohl gereinigt?“, diese Antwort wäre
essentiell, das wusste sie. Noch einmal schlich sie um das verlassene
Haus. Auf der Rückseite wurde sie fündig, denn hier führte eine alte
Kaminleiter an der Außenwand entlang. Wie vieles in diesem Gebäude waren
auch deren Metallstufen, die ins Gebäude eingelassenen worden waren,
rostig und teilweise arg wackelig. Einige Haken fehlten bereits. Doch es
schien ihre einzige Möglichkeit zu sein, um ins Obergeschoss zu
gelangen. Daher nahm Marta all ihren Mut zusammen und ließ sich auf die
riskante Kletterpartie ein. Sie wusste, dass jeder Griff, jeder Schritt
gefährlich sein konnte. Mit zitternden Händen begann sie, die Leiter
emporzuklettern. Unter ihren Füßen knirschten die Haken bedrohlich.
Martas Herz hämmerte, während sie sich an der Wand hochzog. Als sie die
Hälfte der Leiter hinter sich gebracht hatte, brach ein Haken krachend
unter ihrem linken Fuß weg. Die Füße in der Luft, nur noch mit den
Händen an einem wackligen Metallstück hängend, schaute sie in die Tiefe.
Ihr wurde schwindelig, doch sie zwang sich, wieder nach oben zu schauen
und rhythmisch zu atmen. Mit dem rechten Bein stieß sie sich von der
Hauswand ab und nutzte den Schwung, um mit den Händen einen Haken höher
zu greifen. Sie atmete erleichtert auf, als sie das rostige Teil gefasst
bekam. Dann zog sie die Beine nach, so dass sie mit den Füßen wieder auf
einem Haken Halt fand. Inzwischen hatte sie die Dachrinne erreicht und
schob sich vorsichtig über das vermooste Halbrohr nach oben aufs Dach.
Es waren nur noch wenige Meter bis zum linken Zimmer des Ergeschosses.
Auch das Dach war in der Mitte morsch, die Dachpfannen brüchig, die
Balken darunter kaum noch tragfähig. Selbst wenn der Dachfirst nur an
den Stellen, an denen die Pfannen fehlten verfault war, konnte ein
falscher Schritt noch immer Martas Ende bedeuten. Sie wog nicht viel,
doch das Risiko, das sie hier einging, war dennoch enorm. Langsam, schob
sie sich vorwärts, die Augen wachsam auf die instabilen Balken
gerichtet.
Endlich hatte sie die Stelle erreicht, unter der sie Emils Zimmer
vermutete. Mit angespannten Händen begann sie, einzelne Pfannen vom Dach
zu entfernen, um ein Loch zu schaffen, das groß genug wäre, um
durchzuklettern. Das Knarren des alten Holzes versetzte sie zunehmend in
Angst. Mit einem letzten Griff riß sie zwei Pfannen aus der Verankerung.
Der unter ihr Raum war dunkel. Nur durch das gerade entstandene Loch
drang etwas Licht ein. Direkt unter ihr erblickte sie einen alten
Schreibtisch. Sie ließ sich vom Dachbalken herab, die Füße fast auf den
Tisch aufsetzend, und ließ los.
Der Aufprall war sanft. Marta war überglücklich, es geschafft zu haben.
Kaum aber war sie im Raum, hörte sie Stimmen. Die Stimmen waren leise,
aber eindeutig. Es war Graf Emil mit dem Schlossgärtner Willi. Marta
eilte zum geschlossenen Fensterladen, drückte vorsichtig eine Lamelle
hoch und spähte hinaus.
„Schau mal, Willi, was ist denn das?“, hörte sie Graf Emil rufen,
während er auf das verlassene Gesindehaus zeigte. Marta fuhr der
Schrecken in die Glieder. Was hatten die beiden am Sonntagnachmittag
hier zu suchen? Gut, es war das Anwesen des Grafen. Aber warum wusste er
nichts davon? Die beiden Männer schienen das Haus gerade erst zufällig
entdeckt zu haben. Willi machte sich am geöffneten Tor zu schaffen.
Quietschend schob er es mit voller Kraft weiter auf.
„Eigenartig“, murmelte Emil, „warum steht hier mitten im Gestrüpp so ein
Gebäude?“ Seine Stimme klang überrascht.
„Sieht aus wie ein altes Gesindehaus“, wandte Willi ein.
„Aber ich habe es noch nie gesehen.“, noch immer schien der Graf
verwundert zu sein, „lass uns reingehen und schauen“.
Marta hielt den Atem an, während die beiden Männer das Haus betraten.
Sie wusste, dass das Zimmer, in dem sie sich befand, ihr keinen Schutz
bieten konnte. Die Stimmen wurden lauter, und sie spürte, wie die Gefahr
immer näher kam.
„Uaaah, was ist das ein Dreckstall. Alles voller Spinnweben“, schimpfte
Willi. Marta erinnerte sich, dass Frieda im Erdgeschoss alle
Fensterläden aufgerissen hatte. Die ungebetenen Gäste konnten somit
zügig einen Überblick gewinnen.
Dann hörte sie jemanden im Treppenhaus. Panik stieg in Marta auf. Was
wäre, wenn diese beiden Männer doch die morsche Treppe überwinden
könnten?
„Mach das nicht“, schrie Willi, „die Treppe ist total morsch, das sieht
man doch. Geh da nicht drauf. Schau, ich zeige es dir.“
Man hörte die Haustür quietschen, dann gab es einen lauten Schlag, den
Marta nicht einordnen konnte.
„Oh mein Gott“, stöhnte der Graf, „dein schittriger Blumentopf hat die
Stufe wie nichts durchbohrt. Und ich wollte da noch draufsteigen. Puh,
da habe ich aber Glück gehabt. Ich hätte mir alle Knochen brechen
können. Komm, wir gehen, ich habe genug gesehen.“
Erneut hörte Marta die Haustür quietschen. Dann konnte sie durch den
Spalt in der Fensterlade mitverfolgen, wie die Männer rasch im Dickicht
verschwanden. Wenig später ertönte ein Pferdewiehern, ein Zeichen, dass
sie weiterritten.
Auch wenn die Männer vermutlich heute nicht zurückkommen würden, so
traute sich Marta nicht, die Fensterläden im Obergeschoss aufzuklappen.
Stattdessen zündete sie eine Kerze an, die sie vorsorglich mitgebracht
hatte und begann sich im Zimmer umzuschauen. Es war in der Tat ein
Jungendzimmer, mit Bett, Regal, vielen Büchern, einem Schrank, einem
Tisch, einigen Stühlen sowie diversen Kisten und Kästen.
Neugierig zog sie die Schreibtischschublade auf. Hier wimmelte es von
Fotos. Marta zog eine handvoll heraus und betrachtete sie ausgiebig.
Vermutlich war dies der kleine Emil mit seinen Eltern. Was für eine
nette Familie, dachte sie. Das Bild vermittelt soviel Verbundenheit und
Zuversicht. Im Regal lagen Notizhefte. Marta fuhr mit dem Ärmel ihres
Kleides über das oberste Heft und wischte den Staub weg. In einer
durchaus eleganten Handschrift hatte der Verfasser Gedichte und kleinere
Geschichten niedergeschrieben. Dann öffnete Marta eine der Kisten. Sie
enthielt Tagebücher, die auf ihrem schwarzen Rücken kleine Schilder
trugen, auf denen Jahreszahlen notiert waren. Sauber geordnet waren die
Jahre 1905 bis 1914 nebeneinander in der Kiste verpackt worden. Marta
entschied sich für das Jahr 1914 und zog das betreffende Tagebuch
heraus. Dann blätterte sie es bis zum letzten Eintrag duch. Dieser
stammte vom 4. August 1914. Es war ein Brief von Emil an seine Eltern.
Marta musste sich setzen. Dann las sie:
Liebe Mutter, lieber Vater,
heute ist mir so schwer ums Herz. Das Deutsche Reich hat gestern
Frankreich den Krieg erklärt. Nun muss auch ich in den Kampf ziehen.
Es drängt mich, Euch diese Zeilen zu schreiben, denn ich möchte Euch
offen und ehrlich mitteilen, was in mir vorgeht. Die Nachricht, dass
ich morgen in den Krieg ziehen muss, hat mich tief getroffen. Allein,
es ist keine Entscheidung, die mir obliegt, denn als Adliger werde ich
meine Pflicht erfüllen und unserem Vaterland beistehen. Der Plan von
General von Schlieffen sieht vor, dass wir durch Belgien nach
Frankreich einmarschieren, um einen schnellen Sieg zu erringen. Als
Offizier trage ich die Verantwortung für meine Truppe, und ich werde
mich dieser Aufgabe mit allem Mut und aller Hingabe stellen. Ich
verspreche Euch, dass ich alles tun werde, um Euch stolz zu machen.
In diesem Moment spüre ich die Liebe und Fürsorge, die Ihr mir immer
geschenkt habt. Eure Wärme, Eure Unterstützung und Eure
unerschütterliche Zuversicht haben mich zu dem Menschen gemacht, der
ich heute bin. Ich bin so dankbar, dass ich hier aufwachsen durfte, in
einer Familie, in der Herzlichkeit und Güte den Ton angeben. Eure
Liebe hat mich stets gestärkt, auch in den schwierigsten Zeiten. Ich
weiß, dass Ihr Euch Sorgen macht, und das bricht mir das Herz. Doch
ich möchte Euch versichern, dass ich alles tun werde, um gesund und
unversehrt wieder nach Hause zu kommen. Eure Gebete und Eure Gedanken
sind mein größter Schutz. Die Hoffnung, Euch bald wiederzusehen, gibt
mir Kraft. Ich stelle mir vor, wie wir wieder gemeinsam am Kamin
sitzen, und ich Euch von meinen Erlebnissen berichten kann. Ich träume
davon, Euch dankbar wieder in die Arme zu schließen können.
Wenn der Krieg vorüber ist, möchte auch ich Eurem Vorbild folgen und
eine Familie gründen, in der Liebe und Vertrauen das Fundament sind.
Ich möchte Kinder haben, die voller Freude und Zuversicht aufwachsen,
so wie ich es bei Euch erleben durfte. Ich wünsche mir, dass sie in
einem Zuhause aufwachsen, in dem Herzlichkeit und Güte die wichtigsten
Werte sind. Mein größter Wunsch ist es, Euch wiederzusehen. In
Gedanken werde ich immer bei Euch sein. Ich bete zu Gott, dass er uns
beschützt und uns bald wieder vereint.
Mit tiefster Liebe und unendlicher Dankbarkeit,
Euer Sohn Emil.
Emil hatte den Brief wie einen Schwur signiert.
Marta liefen die Tränen über die Wange. So gerührt war sie von dem
Inhalt des Briefes.
Sie hielt inne und schaute sich um. In der Tat, es war alles so, wie
Rudolph es ihr erzählt hatte.
Bald würde die Sonne untergehen. Sie musste somit nun entscheiden, was
zu tun war. Nocheinmal über die Feuerleiter hier hoch zu klettern würde
sie sich vermutlich nicht trauen. Zugleich wollte sie mehr über den
jungen Emil erfahren, was er gedacht, gefühlt, geträumt hatte. Doch es
waren nicht ihre Bücher, nicht ihre Fotos, die hier herumlagen. Sie
gehörten Emil und sie mitzunehmen, hieße, sie zu stehlen. Daher packte
sie alles wieder dorthin, wo sie es hergeholt hatte. Noch einmal schaute
sie durch den Spalt in der Fensterlade in den Garten. Die Ereignisse des
Nachmittags gingen ihr nicht aus dem Kopf. Hatte Graf Emil nicht eben
noch im Garten behauptet, dass er dieses Haus nicht kenne? Ein Haus, in
dem er seine ganze Jungendzeit hindurch bis zum Einzug in den Krieg
Tagebuch geführt hatte? Irgendwie passte das alles nicht zusammen. Oder
hatte er einen Grund, Willi anzulügen? Doch welcher Grund sollte das
sein? Er war doch der Graf. Wenn er nicht wollte, dass Willi etwas von
dem Haus erführe, hätte er doch gar mit ihm hierher reiten brauchen.
Marta konnte sich kein klares Bild aus alle dem machen.
Sie zog daher das letzte Tagebuch wieder aus der Kiste, steckte einige
der Familienbilder hinzu und schob alles in ihr Unterhemd unter das
Kleid. Dann kletterte sie wieder auf den Schreibtisch und zog sich mit
aller Kraft auf das Dach hoch. Sorgsam schob sie die Dachpfannen zurück
an ihren korrekten Platz. Sie wollte vermeiden, dass es in dieses
bedeutende Zimmer hineinregnete.
Erneut kroch sie über das Dach, nun ich Richtung Feuerleiter, die sie
achtsam herunterkletterte. Dieses Mal entschied sie, durch den Tunnel
ins Schloss zurück zu kehren. Wenn Emil das Gesindehaus nicht kannte,
konnte er auch den Tunnel nicht kennen, schloss Marta konsequent. Im
Geheimflur des Schlosses stellte sie zufrieden fest, dass der Pfeffer
noch an Ort und Stelle lag.
So schlick sie auf ihr Zimmer und steckte das Tagebuch in ihre Matratze.
Am nächsten Morgen lagen schwarze Wolken über dem Schloss. Die Hitze der
letzten Tage hatte sich aufgestaut und ein Gewitter war im Anmarsch.
Der Graf hatte gerade mit Frau von Rottenweil ein opulentes Frühstück im
Festsaal beendet, als alle Angestellten in die Eingangshalle zitiert
wurden. Der Graf erwartete sie bereits mit finsterem Blick.
„Meine Damen und Herren“, begann der Graf mit rauer Stimme, „die
ehrenwerte Frau von Rottenweil vermisst seit letzter Nacht ihr
wertvolles Collier“, mit diesen Worten wies er auf seine Begleiterin,
die sich besonders herausgeputzt hatte.
Seine Augen funkelten „Es liegt der Verdacht nahe, dass jemand des
Personals dieses Schmuckstück entwendet hat.“ Er schob die Hände in die
Taschen, sein Blick wanderte von Gesicht zu Gesicht. „Daher werde ich
heute alle Zimmer durchsuchen.“
Marta erblasste. Ein kalter Schauder lief ihr den Rücken hinunter. Was,
wenn er das Tagebuch fand? Das kleine, geheime Buch, das sie im Bezug
ihrer Matratze versteckt hatte?
Das Tagebuch war doch ebenfalls gestohlen. In der Hoffnung, ihre
Nervosität zu verstecken, schob sie ihre zitternden Hände unter die
Schürze. Kaum hatte der Graf seine Ankündigung verlautbart, forderte er
Marta auf, sich zur Wand zu drehen und die Hände hochzuhalten. Mit
raschen Handgriffen begann der Graf nun, sie zu durchsuchen. Seine Hände
tasteten forsch ihren Körper ab. Dabei schien er sich kaum zurückhalten
zu können, als seine Finger über ihre Brüste glitten und er spöttisch
murmelte: „Man weiß ja nie, wo Frauen so alles verstecken.“ Ekelerfüllt
verzog Marta das Gesicht. Nachdem sich auch die anderen Angestellten
dieser Prozedur hatten unterwerfen müssen, befahl der Graf im
Militärsstil „Auf, auf, alle nach oben!“
Graf Emil führte die Gruppe an, es folgten die Angestellten und Frau von
Rottenweil bildete das Ende. Sie mussten die Eichentreppe hinauf, die
bei jedem Schritt leicht unter ihren Füßen knarrte. Im obersten Stock
schlugen sie gleich den Weg zu den Zimmern der Bediensteten ein.
Im vorderen Zimmer schliefen das Küchenmädchen Alma und Marta in einem
doppelstöckigen Bett. Der Graf stürmte in den Raum, riss den einzigen
Schrank auf und warf die Kleidungsstücke achtlos auf den Boden. Dann
wandte er sich dem Bett zu. Im Nu hatter er Almas Bettbezüge abgezogen
und zu Boden geworfen. Dabei fiel ihm Almas Nachthemd in die Hand.
„Schaut mal hier“, rief er spöttisch, und zeigte das Textil in die
Runde. „in so einem Fetzen schläft das Fräulein. Den kann sie auch
besser weglassen. Was meint ihr.“ Ein fieses Lachen von Frau von
Rottenweil hallte durch den Raum, während Alma rot anlief.
Dann bückte sich der Graf, um Martas Bett zu durchsuchen. „Oho“, klang
es aus seinem Mund, als seine Hand auf etwas Hartes stieß. Mit einem
triumphierenden Grinsen riss er den Bezug der Matratze auf. Etwas
Schwarzes kam zum Vorschein.
„Na, was haben wir denn hier?“ fragte er neugierig und las vom
Buchrücken „ Tagebuch 1914“. Marta schluckte schwer.
„Es ist nur ein dummes Buch“, kreischte Frau von Rottenweil.
„Ja, nur ein Buch“, erwiderte der Graf. „Aber eigentlich müsste man mal
lesen, was das Fräulein für schmutziges Zeug schreibt.“ Er wollte gerade
das Buch aufklappen, als Marta es ihm beherzigt aus der Hand riß.
Sie spürte, wie sie zitterte. So fest sie konnte drückte sie das Buch an
sich. „Bitte, das ist mein letztes Andenken an meinen Bruder“, flüsterte
sie mit bebender Stimme.
Der Graf musterte sie. „Ich wusste gar nicht, dass sie einen Bruder
haben.“ Seine Augen funkelten argwöhnisch.
„Hatten“, Marta täuschte ein Schluchzen vor, „er ist im Krieg
gefallen.“
„Na dann“, das Thema schien den Grafen nicht mehr zu interessieren.
„Dann geht's jetzt in das nächste Zimmer“, wies er alle an.
„Puh, ist das hier oben stickig heiß“, keuchte Frau von Rottenweil und
öffnete ihre Handtasche, um ein Erfrischungstuch herauszuholen. Dabei
fingerte sie in der Tasche und zog eine Kette heraus. „Ach sieh an,
Schatz, hier ist sie ja“. Frau von Rottenweil strahle überglücklich und
der Graf gab ihr erleichtert einen Kuss. „Wie schön“. Ein weiterer Kuss
folgte und dann schickte er alle wieder an die Arbeit. Marta verzog sich
kurz auf die Toilette, wo sie das Tagebuch hinter dem Wasserkasten
verstecke. Dann wandte auch sie sich wieder der Tagesarbeit zu.
Sie fegte die Steintreppe zur Eingangshalle, wischte und entstaubte die
Halle und den Blauen Salon. Eigentlich müsste sie noch die Bibliothek
und das Büro des Grafen reinigen. Doch nach dem Vorfall am Morgen fühlte
sie sich ausgelaugt, fast erschöpft. Sie klopfte leise an die Tür der
Bibliothek, öffnete sie vorsichtig und trat ein. Ihr Blick schweifte
sofort in Richtung Büro. Die Tür stand offen, und der Graf war in eine
Zeitung.
„Soll ich nun die Bibliothek und das Büro putzen?“, fragte Marta
vorsichtig, aber mit fester Stimme.
„Nur zu“, kam die knappe Antwort, während der Graf kaum den Blick hob.
„Nur fürs Rumstehen bezahle ich dich ja nicht.“
Sie begann mit der Arbeit. Mit dem Staubwedel glitt sie zwischen den
Regalen entlang. Sie entfernte Staubfäden, die sich in den Ecken
versteckten. Die unzähligen Bücher strahlten eine anziehende Wirkung auf
sie aus. Ob der Graf sie alle gelesen hatte? Ein Wunsch keimte in ihr
auf. Wie gerne würde sie einmal heimlich durch die Regale stöbern, sich
einfach nur in dem vielen verborgenen Wissens verlieren.
Sie wischte den Boden, stellte frische Blumen in eine Vase, atmete tief
durch, doch ihre innere Anspannung blieb. „Ich könnte jetzt das Büro
säubern, wenn es Ihnen recht ist“, sagte sie leise.
„Komm rein, mach sauber“, erwiderte der Graf gleichgültig, während er
weiter in der Zeitung las. Marta wusste, dass sie den Schreibtisch nicht
berühren durfte, das hatte er ihr bereits am ersten Tag klar gemacht.
Stattdessen leerte sie den Aschenbecher vom Beistelltisch, öffnete die
Fenster, um die stickige Luft zu vertreiben, und begann, die
verschlossenen Schränke abzustauben.
Plötzlich brach der Graf das Schweigen: „Und geht es am Sonntag zur
Abstimmung?“ Seine Stimme war scharf, fast bissig, während er noch immer
über die Zeitung gebeugt war.
Sie wusste, was er meinte. Am kommenden Sonntag, dem 20. Juni, sollte
eine Volksabstimmung über die entschädigungslose Enteignung der
deutschen Fürstenhäuser stattfinden. Es war eine Abstimmung, die im
Frühjahr von den freien Gewerkschaften, der SPD und KPD initiiert worden
war.
„Nein, Herr Graf“, antwortete Marta leise, „ich habe doch kein
Wahlrecht.“
„Wahrscheinlich auch besser so“, erwiderte er spöttisch. „Schon schlimm
genug, dass euch Frauen nach dem Krieg das Wahlrecht für den Reichstag
eingeräumt wurde. Verantwortungslos, diese Entscheidung. Aber bei
Volksabstimmungen gilt die zum Glück nicht. Männer haben da mehr Ahnung
von Politik, nicht wahr?“ Er warf ihr einen scharfen Blick zu.
Sie wandte sich kurz ab. „Ich bin erst 17. Ich habe gar kein Wahlrecht.
Das bekomme ich erst mit 20 Jahren. Bis dahin kann ich noch viel lernen,
über die Politik, meine ich.“
Marta spürte, wie ihr Herz schneller schlug, als der Graf sie mit seinen
scharfen Blicken musterte. „Lern erst einmal richtig putzen“, fuhr er
sie mit schneidender Stimme. „Hier unterm Schreibtisch, das ist doch
nicht sauber.“ Er deutete auf einen alten, eingetrockneten Kaffeefleck,
der schon seit Tagen dort befand.
Vorsichtig kniete sich Marta nieder, nahm den Putzeimer und das
Scheuertuch zur Hand. Während sie den Fleck wegschrubbte, spürte sie,
wie sein Blick unaufhörlich auf ihren Brüsten ruhte. Ein unangenehmes
Gefühl kroch ihr den Rücken hoch.
Als sie fertig war, schob sie das Scheuertuch hastig in den Eimer, stand
auf und versuchte, ihre Fassung zu bewahren. Sie verließ das Büro so
leise wie möglich. Insgeheim widerte sie die Arbeit im Schloss
inzwischen nur noch an.
Beim Mittagessen ließ der Graf ausrichten, dass er am kommenden
Wochenende verreisen werde und daher alle den Sonntag frei bekämen. Sie
sollten die Zeit nutzen, um bei der Volksbefragung gegen die Enteignung
zu stimmen. Zwar sei das Grafenschloss nicht direkt betroffen, da ein
Graf nun einmal kein Fürst sei, aber ihnen sollte schon bewusst sein,
welche Privilegien sie genössen, dadurch, dass sie für den Adel
arbeiteten.
So richtig wusste Marta nicht, was er meinte, denn inzwischen war sie zu
der Überzeugung gelangt, dass der Graf alle nur ausbeutete.
Während der Woche gelang es ihr, sich in der Dunkelheit über die
Zugbrücke in die Stadt zu schleichen. Obwohl es spät war, klingelte sie
bei Friedas Opa, der sie rasch ins Haus lies, ohne die Familie
aufzuwecken.
„Rudolph, du hattest mit allem so recht“, stöhnte Marta, als sie wieder
auf dem Sofa Platz genommen hatte.
„Was ist geschehen, Marta, erzähl, du wirkst so unglücklich“, forderte
sie Rudolph auf.
„Er ist ein Widerling, dieser Graf. Wie konnte ich nur bei dem
anfagen.“
„Nun mal ganz von vorn, Marta, was ist passiert“, Rudolph war nun
unnachgiebig. Marta griff unter ihre Bluse und zog das Tagebuch hervor.
„Ich war wieder im Gesindehaus. Frag mich nicht wie, aber irgendwie hab
ich es ins Obergeschoss geschafft. Dort ist alles so, wie du es
beschrieben hast. Es gibt Photos und Bücher und Kisten. Aus einer Kiste
habe ich dieses Tagebuch aus dem Jahre 1914 mitgenommen.
Im Schloss gab es eine Zimmerdurchsuchung, weil eine Freundin des Grafes
ihr Collier nicht finden konnte. Da ist der Graf auf dieses Tagebuch
gestoßen. Er hat es überhaupt nicht wiedererkannt. Er kannte auch das
Gesindehaus nicht, bis er es am Sonntag zufällig zusammen mit dem
Gärtner bemerkte.
Der Emil aus dem Tagebuch und der jetzige Graf,
die sind wie Tag und Nacht. Die passen gar nicht zusammen. Der Graf ist
nur noch ekelhaft. Er macht sich über uns lustig, ist herablassend,
wollüstig und verachtend. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie er
diese Woche mit uns umgegangen ist.“
„Hast du auch das Gefühl, dass der Graf nicht echt sein könnte? Den
Gedanken hatte ich schon damals, als er mich einfach per
Anwaltsschreiben rauswarf. Gustav wollte nochmals persönlich vorstellig
werden. Stell dir vor, den haben sie nicht einmal über die Zugbrücke
gelassen. Einem treuen und loyalen Diener, der rund 50 Jahre seines
Lebens den von Zynsteins gewidmet hat, der sich nichts aber auch gar
nichts zu Schulden kommen lies, nicht mal ein kurzes Gespräch zu
gewähren. Da kann doch etwas nicht stimmen. Das habe ich damals schon
gesagt. Aber man kommt einfach nicht ran an den Grafen.“
„Doch, Rudolph das werden wir. Mir hat er noch nicht gekündigt. Ich
komme noch auf das Schloss. Vielleicht sollte ich in der Bibliothek und
dem Büro mal nachsehen, was er so zu verbergen hat. Diese Räume schließt
er nämlich immer ab.“
„Er schließt die Bibliothek immer ab?“, Rudolph traute seinen Ohren
nicht.
„Ja, das tut er. Er hat Angst, dass wir ihm seine wertvollen Bücher
stehlen.“, stellte Marta klar. „Die Geheimtür geht nur bis zur
Bibliothek. Wie aber komme ich in das Büro des Grafen“, sie sah ihn
hilfesuchend an.
„Marta“, Rudolph hielt sie am Arm fest, „ich glaube, das ganze ist eine
Nummer zu groß für dich. Wir sollten es einfach auf sich beruhen
lassen.“
„Nein, Rudolph, dafür ist es zu spät. Ich weiß jetzt, dass etwas im
Schloss nicht stimmt und dass irgendein Unrecht geschehen ist. Das muss
ich aufklären. Ich sehe mich da schon in einer Verantwortung. Also, wie
komme ich in das Büro?“
Rudolph überlegte. Das Büro war durch die Fenstergitter stark
abgesichert. Der einzig gangbare Weg war die Tür. „Du brauchst einen
Dietrich. Ich besorg dir einen. Und ich versuche auch noch mehr über die
von Zynsteins in Erfahrung zu bringen. Treffen wir uns nächsten Sonntag?
Vorher unternimm aber bitte nichts, verstehst du? Marta?“
Sorgevoll zog Rudolph seine Augenbrauen hoch.
Marta dankte ihm, versprach auf sich aufzupassen und kehrte ohne das
Tagebuch ins Schloss zurück.
Der nächste Sonntag kam wie im Fluge und als alle Bediensteten die
Zugbrücke auf dem Weg zur Kirche überquerten, wurden sie vom Grafen
überholt, in seinem Maybach saß und der allen vergnügt zuwinkte, bevor
er das Gaspedal richtig durchdrückte.
Es war Martas großer Tag, denn die Abwesenheit des Grafen wollte sie
nutzen, um die Bibliothek zu inspizieren. So schlug sie nach der Messe
wieder den Weg zum Schloss ein, musste aber feststellen, dass die
Zugbrücke inzwischen hochgezogen war. Willi, der Gärtner, hatte
Anweisung erhalten, die Brücke erst gegen 18 Uhr wieder
herunterzulassen, denn dann erwartete der Graf die Rückkehr seiner
Bediensteten, damit diese sein Abendessen vorbereiteten.
Insgeheim freute sich Marta, dass die Brücke hochgezogen war, denn so
war sie sicher, dass der Graf sie nicht überraschen würde, wenn sie in
seinen Büchern herumschnüffelte. Sie musste einfach nur den Tunnel
benutzen, um ins Schloss zu gelangen. Mit genügend Kerzen ausgestattet
eilte sie in den Wald und gelangte durch den Tunnel ins Schluss. Durch
die eichene Tür am Ende des Ganges betrat sie den Geheimflur und stellte
mit Beruhigung fest, dass der Pfeffer noch immer unberührt an seiner
Stelle lag. Da sie ihn nicht in die Bibliothek tragen wollte, wischte
sie ihn sorgsam etwas zur Seite. Trotz aller Vorsicht musste sie Teile
des Pfeffers aufgewirbelt haben, denn plötzlich biss und kniff es so
sehr in ihrer Nase, dass laut niesen musste.
„Gesundheit“, klang es aus der Bibliothek.
Marta erstarrte. Sie war nicht alleine im Schloss. Noch hatte sie die
Geheimtür zur Bibliothek nicht geöffnet. Daher schwenkte sie die
brennende Kerze im Kreis um sich, um zu schauen, ob sich ihr jemand
genähert hatte. Doch nach wie vor war sie allein im Flur. Dann hörte
sie, wie die Stimme, die sie inzwischen als die des Grafen erkannt
hatte, wieder einsetzte.
„Hier ist ja die Schönheit“, er klang jetzt schmeichelhaft. „Die Dame am
See“.
Marta schluckte. Sprach der Graf sie durch die Wand an? Hatte er ihre
Anwesenheit bemerkt?
Dann aber ertönte eine zweite Stimme, die sich viel näher bei ihr
befinden musste. „Entschuldigung, aber ich kann Sie nicht verstehen.
Sprechen Sie doch bitte lauter, meine Ohren sind nicht mehr die besten“.
Neugierig entnahm Marta den Magneten aus ihrer Tasche und zog ihn über
den kleinen Engel, der in die Vertäfelung geschnitzt war. Ein
erbsengroßes Guckloch öffnete sich, durch das sie alles beobachten
konnte, was in der Bibliothek vor sich ging. Ihr Herz schlug schneller,
während sie die Szene verfolgte.
Ein alter, hässlicher, aber gut gekleideter Mann hielt ein golden
gerahmtes Gemälde in den Händen. Der Graf betonte, dass es ein echter
Impressionist sei. Der alte Mann stand so nah am Guckloch, dass Marta
die feinen Pinselstriche auf dem Bild erkennen konnte, die dieses so
lebendig erschienen ließen.
„Das ist ein echter Berthe Morisot“, erklärte der Graf mit geschwollener
Brust. „Den habe ich eigens im Krieg aus Frankreich gerettet.“
Der Blick des Gastes verengte sich an, als er mittels einer Handlupe das
ganze Gemälde studierte. Marta konnte die Spannung im Raum geradezu
fühlen.
Mit einem französischen Akzent bestätigte er „Ok, der Deal
gilt“. Damit griff er in einen Koffer und übergab dem Graf einige Bündel
Franken. Er murmelte noch etwas auf Französisch, was Marta aber nicht
verstand und was auch der Graf nicht kommentierte. Stattdessen zählte
dieser das Geld, wobei seine Finger vor Aufregung vibrierten.
„Cèst vrai“, bestätigte Graf Emil, bevor er eilig in sein Büro
verschwand. Marta hörte, wie er einen Schrank öffnete und sah ihn kurz
darauf zurückkehren. In seinen Händen hielt er ein feines Tuch, in das
der Gast das Gemälde hüllte, um es sicher zu verstauen.
Mit unverständlichen Worten verabschiedete sich der Gast höflich.
Angestrengt lauschte sie, während ein Auto vor dem Schloss gestartet
wurde. Dann war das Geräusch der Zugbrücke zu hören und für einen
weiteren Moment schien alles ruhig zu sein.
Nochmals sah Marta den Grafen durch die Bibliothek laufen, in sein Büro
verschwinden und kurz darauf wieder herauskommen. Er verschloss die
Bürotür, schloss dann auch die Bibliothek von außen ab und verschwand in
den Fluren des Schlosses. Nach rund zehn Minuten war alles ruhig.
Marta rieb sich die Augen. Hatte sie das gerade nur geträumt? Was für
geheime Geschäfte fanden hier im Schloss statt? Ein Gemälde,
französische Franken, ein Gast mit französischen Akzent, das alles
schien Teil eines größeren Rätsels zu sein.
Vorsichtig zog sie den Magnet in umgekehrter Richtung über den Engel in
der Täfelung, so dass sich das Guckloch schloss. Nun war es
offensichtlich, dass sie hier im Schloss in einem Netz aus Lügen und
Verrat gefangen war. Umso wichtiger war es, die Machenschaften
aufzudecken und zu Fall zu bringen.
Die Hitze des Sommertages lastete schwer auf dem Schloss, und ihre
drückende Schwüle schien sich auch im geheimen Flur auszubreiten. Marta
lief der Schweiß die Stirn herunter. Gleichzeitig überlegte sie
unschlüssig, was sie nun tun sollte. Am Wichtigsten schien das Büro des
Grafen zu sein. Ohne Dietrich würde sie dieses jedoch nicht betreten
können. Vor allem wusste sie, dass der Graf, entgegen seiner
Ankündigung, wohl den ganzen Tag im Schloss verbringen würde und somit
immer die Gefahr bestand, dass er nochmals die Bibliothek aufsuchen
würde. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war viel zu hoch.
Marta keuchte, „Ich muss etwas trinken“. Ohne zu zögern schlich sie zur
letzten Tür des Flures, öffnete diese leise und betrat das hintere
Treppenhaus. Das Treppenhaus war voll der Sonne ausgesetzt, die Hitze
drückte noch schwerer auf das Dienstmädchen, doch sie zwang sich, ruhig
zu bleiben. Sie trat in die Küche und goss sich ein Glas Wasser aus dem
Wasserhahn ein. In einem Zug hatte sie es geleert. Das kalte Nass
erfrischte ihre Kehle, und für einen Moment konnte sie durchatmen.
Sie nahm an dem kleinen Küchentisch Platz, schloss die Augen und
versuchte, die Hitze und die Anspannung abzuschütteln. Doch kaum hatte
sie sich gesetzt, öffnete sich die Tür vom Festsaal her, und der Graf
trat ein. Er schien hungrig zu sein, denn sein Blick fiel sofort auf den
Obstkorb, der mitten auf der Anrichte vor dem Fenster stand. Als er
Marta erblickte, hielt er abrupt inne.
„Was machen Sie denn hier? Heute an Ihrem freien Tag? Sind Sie nicht mit
den anderen in die Kirche gegangen?“, fragte der Graf mit einem
irritierten Ton, der kaum verbergen konnte, wie negativ überrascht er
war.
Schlagartig fühlte sich Martas Kehle wieder trocken an.
„Nein, Herr Graf. Ich hatte heute Morgen eine derartige Migräne, dass
ich nicht mit den andern mitgehen konnte. Ich bin auf meinem Zimmer
geblieben und habe mich ausgeruht. Jetzt geht es mir besser, und da
dachte ich, es wäre gut, etwas zu trinken.“ Sie versuchte, ruhig zu
klingen, doch ihr Herz pochte heftig.
Der Graf runzelte die Stirn. „Ach nee“, sagte er skeptisch. „Und ich
meinte mich erinnern zu können, dass Sie heute Morgen mit den anderen
die Zugbrücke verlassen hätten.“
„Nein, Herr Graf“, erwiderte Marta rasch „Ich war die ganze Zeit auf
meinem Zimmer.“
Er trat einen Schritt näher, seine Augen musterten
sie prüfend. „Und Sie waren die ganze Zeit im Bett? Kein Spaziergang im
Garten? Nichts?“
„Ja, ich weiß, das mag mich jetzt als faules Mädchen abstempeln“,
erwiderte Marta vorsichtig, „aber die Migräne war unerträglich. Das
Tageslicht beißt einem das Hirn heraus.“ Sie wollte noch mehr erklären,
doch der Graf hob die Hand, um sie zu unterbrechen.
„Das interessiert mich nicht“, sagte er kühl. „Heute ist Ihr freier Tag.
Da können Sie meinetwegen so lange im Bett bleiben, wie Sie wollen.“
Seine Stimme wurde weicher, doch in seinen Augen lag etwas
Unberechenbares. „Ich habe Hunger. Wie wäre es, wenn Sie mir ein
Frühstück machen? So richtig lecker. Ich bin sicher, Sie können das.“
Sein Blick glitt wieder auf ihre Brüste, und Marta spürte, wie sich ein
unangenehmes Gefühl in ihr ausbreitete. Graf Emil trat einen Schritt auf
sie zu, seine Stimme wurde noch verführerischer. Mit einem leisen
Unterton fragte er sie: „Wir sind jetzt alleine im Haus. Sie haben keine
Migräne mehr. Das sollten wir doch nutzen, nicht wahr?“ Er lies seine
Hand auf ihrem Oberschenkel übers Kleid gleiten.
Marta begriff
sofort, welches Spiel hier gespielt wurde. Sie spürte, wie sich Panik in
ihr ausbreitete und wusste, dass sie schnell handeln musste. Mit einem
Ruck schob sie Emil von sich, sie riss die Küchentür auf und rannte
durch den Festsaal und die angrenzende Eingangshalle hinaus ins Freie.
Doch der Graf war von ihrer Aktion nur kurz überrascht und setzte zur
Verfolgung an.
Marta blicke um sich. Wohin sollte sie jetzt
flüchten?
Die Zugbrücke war bereits wieder hochgezogen. Sie war somit auf der
Insel gefangen. Aber was gab es auf der Insel für Möglichkeiten, sich zu
verstecken? Marta fielen nur der Pferdestall und der Garten ein. Sie
entschied sich für letzteren.
„Bleib stehen! Du kommst hier nicht weg!“ hörte sie den Grafen rufen.
Ohne zu zögern rannte Marta los, über den Vorplatz in das alte
Heckenlabyrinth, das ein verzweigtes Gewirr aus hohen, dichten
Buchsbaumhecken war. Ihr war bewusst, dass der Graf sie nun dort suchen
würde, doch es war ihre einzige Chance, sich zu verstecken. Mit
schnellen Schritten stürmte sie in das grüne Dickicht, mit den Hände
suchte sie nach einem Weg durch die dichten Zweige.
Hinter ihr hörte sie die schweren Schritte des Grafen, der auf dem
Kiesweg vorbei preschte, während er sie suchte.
„Komm raus, Marta! Ich weiß, du bist hier irgendwo!“, rief er wütend.
Doch sie drängte sich tiefer ins Labyrinth, die Zweige kratzten an ihrer
Haut, während sie versuchte, leise zu bleiben. In einer Ecke, in der die
Sicht durch die hohen Hecke versperrt war, blieb sie stehen, um sich
auszuruhen. Ihr Atem war kaum hörbar. Sie drückte sich in die kalte
Hecke. Ihre Augen suchten noch immer nach einem Fluchtweg.
Plötzlich hörte sie Graf Emil wieder, der nur wenige Meter von ihr
entfernt war. Seine Stimme wurde lauter, frustrierter,
„Ich werde dich finden, egal wo du dich versteckst!“
Das war das letzte, was sie hörte, bevor der Graf in eine andere
Richtung des Gartens lief. Sie wagte einen Blick durch die Zweige. Der
Graf schien das Labyrinth mit all seiner unübersichtlichen Struktur
nicht zu kennen und so bot es ihr Schutz, solange sie still blieb.
Dauerhaft konnte sie jedoch nicht hier verweilen. So sicher war es denn
doch nicht, zumal der Graf durchaus unberechenbare Einfälle hatte. Doch
die Zeit verrinn, ohne dass der Graf wieder auftauchte.
Marta schaute auf die Uhr. Es war inzwischen kurz vor sechs. Bald würden
die anderen Bediensteten zurück sein, denn um sieben erwartete der Graf
sein Abendessen. Sie müsste also noch etwas warten. Gegen viertel vor
sieben verließ sie das Labyrinth und eilte am Schloss vorbei zur
Zugbrücke.
Der Graf hatte aber erneut Anweisung erteilt, die Brücke hochzuziehen.
Er wollte wohl sicher sein, dass ihm Marta nicht entwischte.
Wie sollte sie nun die Insel verlassen? Den Tunnel konnte sie nur durch
das Schloss erreichen, dachte Marta. Die einzige Alternative bestand
darin, durch den See zu schwimmen. Doch davor hatte der Graf alle
bereits zigfach gewarnt. Da der Fluss den See durchkreuzte, gab es im
See unterirdische Strömungen, die unberechenbar waren. Das sei auch der
Grund gewesen, warum seine Frau dort ertrunken sei, obwohl sie
eigentlich eine gute Schwimmerin war, hatte der Graf sie belehrt.
Marta überlegte intensiv. Was wollte sie eigentlich erreichen? Sie
wollte aufklären, was hier vor sich ging und Rudolph hatte ihr auch
Unterstützung zugesagt. Sie konnte und wollte nicht einfach alles
aufgeben. Sie musste zurück ins Haus. Wenn sie sich immer nah bei den
anderen Bediensteten aufhielte, solange der Graf im Schloss anwesend
war, würde dieser sie sicherlich in Ruhe lassen. Somit kehrte sie auf
ihr Zimmer zurück, zog sich um und servierte pünktlich um sieben Uhr das
Abendessen.
Der Graf sah sie kauend an „Ach, dem gnädigen Fräulein geht es wieder
besser“, klang es höhnisch und schmatzend aus seinem Mund.
Den ganzen Abend blieb Marta eng bei Alma und Elise und war froh, als
sie später mit Alma im Doppelbett lag, Alma oben, sie unten. Bald schon
hörte sie Alma über sich schnarchen. Marta hingegen konnte nicht
einschlafen. Sie musste ununterbrochen an den Auftrag denken, den sie zu
erfüllen hatte.
Am nächsten Morgen erschien der Graf mit einem ungewöhnlich breiten
Lächeln im Gesicht zum Frühstück. Während er sein Croissant in den
Kaffee stippte las er laut aus der Tageszeitung vor: „Der Volksentscheid
über die entschädigungslose Enteignung der bis 1918 regierenden
Fürstenhäuser ist gescheitert. Nur 36,4 % der Stimmen sprachen sich für
den Entscheid aus, damit verbleibt es beim bisherigen Stand.“ Herzhaft
biss er vom Croissant ab. Für einen Moment schloss er zufrieden die
Augen. Dabei murmelte er, „Es gibt doch noch vernünftige Menschen in
diesem Land“.
Kurz darauf verkündete er dem Personal, dass er heute in die Stadt
fahren würde und erst am Nachmittag zurückkehren wolle. Dann sollte die
Köchin ein üppiges Kaffeekränzchen im Garten vorbereitet haben, denn
Frau von Rottenweil käme zu Besuch. Es müsse wirklich perfekt sein,
betonte er und stand auf. Marta, die alles mit angehört hatte,
vermutete, dass der Graf das viele Geld, welches er am Vortag erhalten
hatte, auf die Bank bringen würde. Seine Abwesenheit war die
Gelegenheit, endlich die verbotene Bibliothek zu durchsuchen. Kaum hatte
der Graf mit seinem Maybach das Wasserschloss verlassen, schlüpfte sie
durch die Geheimtür in die Bibliothek, deren offizielle Türen der Graf
wie üblich verschlossen hatte. Die Bibliothek war eine Ansammlung aus
alten Regalen, die sich vom Fußboden bis zur Decke erstreckten und nur
so von Büchern überquollten. Eine Metallstange, an der eine Leiter hing,
lief rund um den Raum. Diese ermöglichte es, auch an die höher gelegenen
Bücher zu gelangen. Marta begann ihre Suche auf der linken Seite, auf
der wissenschaftliche Werke in roten Ledereinbänden standen. Rechts
waren Philosophie, Literatur und Kunst zu finden. Es waren so viel alte,
wertvolle Bücher, die kaum jemand berührte haben dürfte. Doch Martas
Blick blieb an den neueren Regalen hängen, die seitlich vor dem Büro des
Grafen standen. Hier lagen handgeschriebene Wälzer in blauem Einband und
goldener Aufschrift. Sie berichteten über von der Familiengeschichte des
Hauses von Zynstein. Die Geschichte endete mit dem Jahr 1917, also mit
dem tragischen Tod der Eltern des Grafs.
Am liebsten hätte Marta das Exemplar mit auf ihr Zimmer genommen, um es
in Ruhe zu studieren, doch sie wusste, dass sie vorsichtig sein musste.
Ein fehlendes Buch würde in diesem Regal sofort auffallen. Vorsichtig
blätterte sie durch die Seiten und erfuhr, dass vor der Geburt des
Grafen Otto von Zynstein ein Brand im Schloss ausgebrochen war. Damals
war die Eingangshalle in Flammen aufgegangen. Das gesamte Treppenhaus
wurde zerstört. Dies war auch der Grund, warum neben den Renovierungen
zugleich ein zweites Treppenhaus gebaut wurde, eben das Hinterhaus,
welches die Bediensteten heute nutzten. Graf Otto wurde 1856 geboren.
Mit 28 heiratete er die Baronin von Rosenbach, und 1886 erblickte ihr
gemeinsamer Sohn Emil das Licht der Welt. Weitere Kinder gab es nicht.
Marta las über die großen Komplikationen, die es bei der Geburt Emils
gegeben hatte. Graf Otto hatte damals um das Leben seiner Frau
gefürchtet. Die Ärzte stellten später fest, dass diese Probleme Claras
Fruchtbarkeit beeinträchtigt hatten, so dass weitere Kinder nicht mehr
möglich waren. Im Jahre 1914 hatte der Graf vermerkt, wie viel Angst er
und Clara bei dem Gedanken hatten, nun ihr einziges Kind in den Krieg
ziehen zu sehen. Marta musste einen Moment mit dem Lesen pausieren, so
sehr ging ihr alles ans Herz.
Als sie das schwere Familienbuch wieder zuklappte, spürte sie, wie sich
die Atmosphäre im Raum verändert hatte. Es war, als ob die Eltern des
Grafen direkt mit ihr gesprochen hätten. Sie fühlte sich inzwischen
innig mit ihnen verbunden. Doch es half nichts, sie konnte nicht hier
bleiben, denn die Arbeit rief.
In der Küche war Elise bereits emsig dabei, alles für die Kaffeestunde
im Garten vorzubereiten. Der Duft von frisch gebackenem Kuchen und
dampfendem Kaffee lag in der Luft. Marta griff nach der zarten, weißen
Tischdecke, nahm das Tablett mit dem feinen Porzellan, Besteck und den
kleinen Dekorationen und begann, alles im Garten zu arrangieren.
Willi hängte derweil kleine Laternen in den Bäumen auf, um das Ambiente
nach Sonnenuntergang noch magischer erschein zu lassen.
„Schau mal, Marta, schau mal!“ Willi winkte ihr zu, während er eine der
Laternen in eine Baumkrone hängte. „Ist das nicht romantisch?“
Bald schon trafen Graf Emil und Frau von Rottenweil ein. Sie benahmen
sich wie ein Paar Turteltäubchen, hielten Händchen, gaben sich Küsschen,
und genossen Elises leckere Erdbeertorte. Marta beobachtete sie mit
einem leisen Wohlwollen.
„Wenn Frau von Rottenweil dem Grafen seine Gelüste erfüllen will, soll
sie nur“, murmelte sie leise vor sich hin. „Dann bleibt wenigsten die
Belegschaft verschont.“ Auch Alma hatte ihr kürzlich gestanden, dass sie
vom Grafen bedrängt wurde.
Gegen Abend kam ein Bote auf einem Fahrrad zum Schloss. Er trug dunkle
Kleidung und hatte eine Eilnachricht in der Hand. Der Graf erbrach das
Siegel. Dann rief er Marta herbei. „Ihre Tante ist verunfallt“, sagte er
mit ernster Stimme. „Sie sollen sofort nach Hause kommen.“ Marta spürte,
wie ihr Herz schneller schlug. Graf Emil, der noch immer in guter
Stimmung war, nickte verständnisvoll und deutete mit einer Handbewegung
an, dass sie gehen dürfe.
„Danke“, hauchte Marta hastig und eilte in die Stadt. Noch bevor Marta
daheim den Haustürschlüssel ins Schloss schieben konnte, legte sich eine
Hand auf ihren Mund und Marta wurde rasch in ein Gebüsch neben dem
Eingang gezogen.
„Ruhe, Marta, keine Sorge“, flüsterte Rudolph mit ernster Stimme. „Ich
habe dir die Nachricht geschickt. Es ist wichtig.“
Gemeinsam schlichen sie in seine Wohnung, damit sie unbehelligt blieben.
Rudolph sah Marta mit streng Miene an. „Ich mache mir große Sorgen um
Dich. Hör zu, was ich inzwischen herausgefunden habe.“ Er setzte sich zu
ihr auf das Sofa. „Ich habe meinen Neffen in Berlin angerufen. Er hat
gute Beziehungen zu Mitarbeitern im Reichsarchiv. Die haben für ihn
recherchiert. Was mir mein Neffe erzählt hat, hat mir das Blut in den
Adern gefrieren lassen, Marta."
"Graf Emil von Zynstein war
Offizier im Infanterie-Regiment Nr. 134“, fuhr Rudolph fort. „1914 zog
dieses über Belgien nach Frankreich. Das Regiment wurde bei der ersten
Schlacht an der Marne fast vollständig aufgerieben. Man geht davon aus,
dass niemand überlebt hat.“
„Niemand? Und was ist mit Graf Emil?“, Martas Stimme klang irritiert.
„Genau das ist das Merkwürdige. Graf Emil von Zynstein wurde
zunächst als gefallen registriert. Doch nachträglich wurde dieser
Eintrag wieder gelöscht. Daher ging auch keine Gefallenennachricht an
seine Eltern. Es ist, als hätte jemand die Geschichte umgeschrieben.“
Marta spürte, wie sich eine Gänsehaut auf ihren Armen bildete.
„Das bedeutet doch, dass er vielleicht doch nicht gefallen ist?“
„Ist das nicht sonderbar?“, unterbrach Rudolph sie. „Glaubst du
wirklich, dass ein Offizier, der sein ganzes Regiment in einer Schlacht
verliert, selbst wieder von den Toten auferstehen kann? Ich denke mal
nicht. Ist es nicht eher wahrscheinlich, dass damals jemand im
Reichsarchiv die Einträge einfach gefälscht hat?“ Rudolph holte Luft
„Und das wirft ein ganz anderes Licht auf alles. Denn dann steckt viel
mehr dahinter, als wir dachten.“
Marta starrte Rudolph an. Das, was sie hier hörte, verschlug ihr die
Sprache. Es schien immer offensichtlicher, dass derjenige, der nun im
Schloss als Graf Emil residierte, kein echter von Zynstein war. Er war
ein Verbrecher, ein Schwindler und ein Hehler, das wurde Marta zunehmend
klar.
Dann berichtete sie Rudolph, was sie im Schloss erlebt hatte. Rudolph
hörte aufmerksam zu, als sie über den Vorfall mit dem Gemälde berichtet
und war schockiert, zu erfahren, wie der Graf die Angestellten
belästigte.
„Sei vorsichtig. Solche Menschen sind gefährlich“, warnte er sie. „Man
weiß nie, was sie als Nächstes planen.“
Sie blickten sich an, die Anspannung war spürbar. „Was sollen wir jetzt
tun?“, fragte Marta.
„Nimm dich vor ihm in Acht. Vielleicht ist es besser, wenn du vorerst
nicht mehr auf das Schloss gehst,“ sagte Rudolph entschlossen.
„Aber ich muss die Wahrheit ans Licht bringen“, erwiderte sie. „Ich kann
nicht einfach so wegsehen.“
„Das verstehe ich, Marta“, Rudolphs Stimme hatte einen beruhigenden Ton
in sich. „Aber manchmal ist Vorsicht besser als Aktionismus.“
Doch Marta war nicht zu bremsen. Rudolph entschloss sich daher, ihr den
Dietrich zu übergeben, den er eigens für sie besorgt hatte.
„Pass auf Dich auf“, diese Worte klangen noch lange in Martas Ohren
nach. Am nächsten Morgen war sie wieder im Schloss. Dort entschuldigte
sich beim Grafen für ihre Abwesenheit und berichtete ihm, dass ihre
Tante von der Leiter gefallen sei und habe sich den Fuß verdreht. Sie
seien gleich zum Arzt gefahren. Die Nacht hätte sie aber gut überstanden
und heute Morgen sei sie schon in der Lage gewesen, erste Schritte zu
gehen. Die Nachbarn würden sich nun um sie kümmern.
In der Küche traf Marta auf Alma, die vor Neuigkeiten nur so sprühte.
„Marta, du wirst es kaum glauben“, begrüßte Alma sie, „aber die
Gartenparty gestern war kein reines Tête-à-Tête.“
Marta runzelte die Stirn. Doch Alma war nicht zu bremsen. „Der Graf hat
sich verlobt. Mit Frau von Rottenweil. Und die Hochzeit soll noch in
diesem Monat sein.“
„Was? So schnell?“, Marta konnte kaum glauben, was sie da hörte.
Alma nickte. „Genau das. Und jetzt kommt's. Das ganze Schloss muss bis
dahin auf Hochglanz gebracht werden. Für die Feier natürlich.“
Marta fragte sich, warum das jetzt so schnell vor sich gehen musste.
„Das heißt, alles wird jetzt noch hektischer? Noch mehr Druck?“
„Ja“, stöhnte Alma leise.
Die Renovierungsarbeiten würden ihr sicherlich mehr Chancen bieten, ihr
geheimes Projekt zu beschleunigen, dachte Marta beruhig.
Schon am nächsten Tag schwirrten Bauarbeiter und Maler durch das
Schloss, ihre Stimmen und das Klappern von Werkzeugen hallten durch die
Flure. Der Graf führte sie durch die Räumlichkeiten, wies auf Ecken und
Kanten, die dringend ausgebessert, neu gestrichen oder repariert werden
mussten. Die Hektik im Schloss führe zwar dazu, dass für kurze Zeiträume
das Büro des Grafen offen stand, doch Marta hielt es für zu riskant,
diese Zeiten für ihren Plan auszunutzen. Sie behielt gleichwohl ein
wachsames Auge.
Als der Graf und Frau von Rottenweil in die Stadt zum Raumausstatter
unterwegs waren, um edle Stoffe auszusuchen, schlich sie durch den
Geheimgang in die Bibliothek. Mit zitternden Händen holte sie den
Dietrich aus ihrer Schürze und öffnete vorsichtig die Tür des Büros.
Eilig zog sie die Schubladen auf und durchstöberte sie. Ihr fiel das
Haushaltsbuch in die Hände. Sie schlug es auf. Es schien, als habe der
Graf hohe Schulden angehäuft.
Während Marta das Buch wieder zurücklegt, fragte sie sich, wie er die
teure Renovierung des Schloss und die Hochzeit wohl finanzieren würde.
Marta traute es dem Grafen inzwischen auch zu, dass dieser die Hochzeit
nur arrangierte, um an das Vermögen der Frau von Rottenweil zu gelangen.
Dass sie vermögend war, war nicht zu übersehen. Marta schob die
Schubladen wieder zu und ging auf den Schrank zu. Doch dieser war
verschlossen. Sie überlegte gerade, wie sie auch dieses Schloss öffnen
konnte, als sie jemanden an der Tür zur Bibliothek hörte.
Panisch versteckte sie sich hinter einer dünnen Gardine, die bis zum
Boden reichte. Sie hielt den Atem an. Durch die offene Bürotür hallten
schwere Schritte, die immer näher kamen.
Dann betrat ein Mann das Büro. Es war Willi, der Gärtner. Er war
sichtlich irritiert, dass die Tür offen stand. Noch im Türrahmen drehte
er sich um, blickte in die leere Bibliothek und schien kurz zu
überlegen. Dann schritt er zielstrebig auf den Schrank zu, dessen
Einblick Marta bislang verwehrt war. Sie drückte sich noch enger an die
Gardine, um durch die dünnen Fasern alles verfolgen zu können.
Allerdrings versperrte Willis Rücken ihr die Sicht.
Sie hörte, wie er an einem Drehknopf herumfummelte. Leise murmelte er
den Code „5 rechts, 7 links, 3 rechts, 2 links.“ Dann sprang der Tresor
mit einem Klick auf. Marta konnte nur erahnen, was sich darin befand. Es
war zu riskant, den Kopf seitlich aus der Gardine zu stecken.
Dem Klang nach schien Willi dem Tresor ein paar Gegenstände entnommen zu
haben, bevor er ihn wieder verschloss. Dann verließ er das Büro und
schloss es ab.
Marta verstand die Welt nicht mehr. Was hatte der Gärtner hier zu
suchen? Woher hatte er den Schlüssel und wieso kannte er sogar den Code
für den Tresor? Es war ihr schon bei dem Vorfall im Gesindehaus
aufgefallen, dass Willi und Emil sich irgendwie nahe standen. Aber
warum?
Marta wusste, dass jetzt für solche Gedankenspiele keine Zeit war. Sie
schlich zum Schrank und zog eine Haarnadel aus ihrer Frisur. Mit Bedacht
gelang es ihr mittels der Nadel, den Schrank zu öffnen. Sie drehte den
Tresorknopf ebenso, wie sie es von Willi gehört hatte und im Nu sprang
der Tresor auf.
Innen lag ein Bündel Reichsmark, kaum genug, um die Gehälter für den
nächsten Monat zu begleichen. Daneben Schmuckschachteln. Sie öffnete
eine nach der anderen. Viele waren leer oder fast leer, nur hier und da
enthielten sie noch einen Ohrring oder eine Brosche. Die unterste
Schachtel war die schwerste. Als Marta den Deckel abhob, kam das
berühmte Collier des Grafenhauses zum Vorschein. Es war jenes Collier,
mit dem sich die Damen des Hauses auf den Gemälden der Ahnentafeln
verewigt hatten, welche in der Eingangshalle hingen.
Vermutlich würde Emil auch diese letzten Juwelen bald verpasst haben,
dachte Marta. In den unteren Fächern des Tresors standen in Leinentücher
gewickelte Gemälde. Martas Hände zitterten aufgeregt als sie vorsichtig
die Tücher abzog. Die Bilder waren von französischen Künstlern, alle
handsigniert. Sie stellen Landschaften und Akte dar. Insgesamt waren es
rund zehn Gemälde.
Marta war so vertieft in die Schönheit der
Bilder, dass sie nicht bemerkte, wie sich die Tür zum Büro erneut
öffnete. Sie fuhr erschrocken zusammen, als neben ihr die Stimme des
Grafen erklang.
„Na, wen haben wir denn hier?“, knurrte er mit scharfer Stimme. Bevor
Marta etwas antworten konnte, spürte sie schmerzlich seine Faust im
Gesicht. Sie stürzte zu Boden, die Wucht des Schlages raubte ihr den
Atem.
„Was ein undankbares Miststück du bist“, schrie der Graf, während er
erneut ausholte. Doch anstatt zuzuschlagen, zog er seinen Gürtel aus der
Hose, band sie damit an die Heizung, und drückte ihr ein Taschentuch als
Knebel in den Mund. Dann verließ er das Büro. Die Tür fiel ins
Schloss.
Verzweifelt versuchte Marta, sich zu befreien. Ihre Hände schmerzten, so
stramm hatte der Graf den Gürtel um sie gezogen. Schreien konnte sie
nicht. Der Knebel im Mund ließ kein Wort durch ihre Kehle nach außen
kommen. Ihre Gedanken rasten – was sollte sie jetzt tun?
Da Marta zum Abendessen um 19 Uhr nicht erschienen war, mussten Elise
und Alma das Essen selber servieren. Die Küche stand daher zeitweise
leer, so dass niemanden auffiel, als Willi einen schweren Kartoffelsack
durch sie hindurch ins dahinter gelagerte Treppenhaus zog. Dort hievte
er den Sack auf die Schulter und verschwand im Keller.
Der Keller diente als Lagerraum. Er setzte sich aus zwei Räumen
zusammen. Während im ersten Kohle und Holzscheite aufgeschichtet waren,
reihten sich im zweiten Raum Regale an den Wänden, die mit Eingemachtem
bestückt waren. Gemüse, Obst, alles, was der Schlossgarten zu bieten
hatte, wurde eingekocht und hier gelagert, damit Elise es im Winter in
der Küche verwenden konnte.
Willi legte den schweren Sack vor den Regalen ab. Dann schob er eines
der Regale zur Seite, so dass eine versteckte Tür zum Vorschein kam. Er
schloss sie auf, drehte das Licht an und holte den Kartoffelsack.
Nachdem er die Tür wieder geschlossen hatte, löste er die Kordel, mit
dem er den Sack zusammengebunden hatte. Mit grober Gewalt zog er Marta
aus dem Sack, schliff sie über die Erde bis zur Wand, in der ein
Eisenring eingelassen war. Dann befestigte er sie dort mit Handschellen,
bevor er das Licht wieder ausschaltete und den Raum verlies.
Als Marta wieder zu sich kam, war alles um sie herum in Dunkelheit
gehüllt. Ihre Kehle war trocken, obgleich sie nicht länger den Knebel im
Mund hatte. Ihre Handgelenke schmerzten. Sie konnte sich nur wenige
Zentimeter bewegen. Ihr erschloss sich nicht, wo sie sich befand. Es
roch staubig, der Boden unter ihr war kalt. In ihrer Not fing sie an, an
den Handschellen zu zerren, doch dadurch schnitten sich diese nur noch
tiefer in ihre Hände.
Marta schrie. Sie schrie so laut sie konnte.
Irgendwer musste sie doch hören, hoffte sie. Doch alles blieb ruhig. Sie
wusste nicht, wie lange sie schon hier gelegen hatte, als sie vernahm,
wie die Tür geöffnet und das Licht eingeschaltet wurde.
Sie zog den Arm vor ihr Gesicht. Ihre Augen waren die Helligkeit nicht
mehr gewöhnt und das grelle Licht fühlte sich unterträglich an. Ein Mann
bäumte sich vor ihr auf. Es war Willi. „Ich wollte vor dem Schlafengehen
nochmals nach dem Rechten sehen“, sagte er spöttisch.
Dann nahm er einen Metalleimer und schöpfte mit ihm etwas Wasser aus
einer Wanne, die in der Ecke des Raumes stand. Marta lies ihren Blick
durch den Raum schweifen. An den Wänden hingen Nagelbretter, Zangen und
Peitschen.
Marta schrie entsetzt auf, als sie an der Wand das Bild einer Folterung
erblickte. Wo hatte man sie hier hingebracht? Angst stieg in ihr auf und
Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn.
Willi knallte den Eimer neben ihr auf den Boden. „Da, da haste was zum
Trinken. Damit du nicht vorzeitig krepierst. Hier unten kannst Du so
laut schreien, wie du willst. Keiner wird dich hier hören. Und morgen
entscheidet der Chef, was wir mit dir anfangen. Also träum was Süßes!“
mit diesen Worten knipste er das Licht aus und verschwand. Marta hört
noch den Schlüssel im Schloss. Dann war es wieder still.
Sie beugte sich mit dem Kopf über den Eimer. Ein widerlicher Geruch
stieg von dem Wasser auf. Es roch modrig. Marta ekelte sich so, dass sie
es nicht trinken wollte. Zumindest noch nicht. Sie hatte keine Ahnung,
was sie noch erwarten würde.
Auf dem Markt war Frieda dem Küchenmädchen Alma über den Weg gelaufen.
Sie kannten sich nur flüchtig, doch Alma wusste, dass Frieda Martas
beste Freundin war. Deshalb sprach sie Frieda an. „Es tut mir leid, dass
Marta entlassen wurde. Hat sie schon eine neue Stelle?“
Frieda schaute Alma irritiert an. „Marta wurde entlassen?“
„Ja, der Graf hat uns heute Morgen mitgeteilt, dass er Marta entlassen
musste. Sie sei einfach nicht zuverlässig, käme nicht pünktlich zur
Arbeit und würde alles auch nur halbherzig erledigen. Das könne er auf
seinem Schloss nicht dulden und so habe er Marta mit sofortiger Wirkung
entlassen.“, wusste Alma zu berichten. „Ich fand es sonderbar, dass sie
sich nicht bei mir verabschiedet hat. Wo wir doch dasselbe Zimmer
geteilt haben. Eigentlich dachte ich, dass wir immer gut miteinander
ausgekommen seien.
Stell dir vor, Frieda, sie hat noch nicht einmal ihre Kleider
mitgenommen. Die hängen noch immer auf unserem Zimmer.“
Frieda schien sehr besorgt. Rasch verabschiedete sie sich von Alma und
suchte ihren Opa Rudolph auf.
Als Frieda ihm von den Entwicklungen im Schloss berichtete, erblasste
Rudolph und musste sich setzen.
„Gibt es jemanden, der Marta seit der Entlassung gesehen hat?“, wollte
er von Frieda wissen.
Doch die schüttelte nur den Kopf. „Ich glaube nicht. Es klang auch alles
so sonderbar, was Alma erzählte. Selbst wenn Marta entlassen wäre, würde
sie sich so klammheimlich aus dem Staube machen? Ich habe schon bei
ihrer Tante geklingelt. Dort hat sie sich auch nicht gemeldet.
Irgendetwas stimmt da nicht.“, sie starrte ihren Opa an.
„Mir gefällt das überhaupt nicht. Das ganze Schloss, der Graf, ich
glaube, dass dort ein Riesenverbrechen vor sich geht.“
Frieda bot sich an, unverzüglich die Polizei zu informieren, doch ihr
Opa warnte sie. Dann klärte er sie über all die Geheimnisse auf, die
Marta und er herausgefunden haben.
„Frieda, wir wissen nicht, was der falsche Graf, als solchen muss man
ihn doch bezeichnen, was der mit Marta vor hat. Wenn wir die Polizei
schicken, kann es sein, dass ihm klar wird, dass seine gesamte Maskerade
aufgeflogen ist. Spätestens dann wird er alles, was ihm gefährlich
werden könnte, beseitigen, auch Marta.“
Frieda bedrängte ihren Opa „Aber wir müssen doch etwas tun, wir müssen
Marta retten.“
Rudolph überlegte. „Ich vermute, dass er sie erwischt hat, als sie in
sein Büro eindringen wollte. Und ich Volltrottel habe ihr auch noch den
Dietrich dafür besorgt! Es müsste dringend jemand auf dem Schloss nach
ihr suchen.“
„Soll ich Alma darum bitten?“, fragte Frieda.
„Nein, wir dürfen nicht auch noch das Küchenmädchen in Gefahr bringen“,
entschied Rudolph.
„Dann gehe ich aufs Schloss“, rief Frieda aus. Sie war festentschlossen,
ihrer Freundin zu helfen. Obwohl Rudolph nicht ganz wohl bei der Sache
war, ließ er sich überzeugen. Auf einem Blatt Papier zeichnete er auch
für Frieda die Umrisse des Schlosses auf. Er skizzierte den Tunnel und
die Geheimtüren, erklärte deren Funktionsweise und schloss seinen
Vortrag mit der Frage, ob sie alles verstanden hätte.
Frieda nickte, nun verstand sie auch, wohin Marta seinerzeit
verschwunden war, als sie gemeinsam das Gesindehaus besucht hatten.
Rudolph holte ihr Kerzen und einen Handmagneten. „Frieda, versprich mir,
dass Du dich nicht in Gefahr begibst, finde nur heraus, ob Marta noch im
Schloss ist und wie wir zu ihr kommen können. Hörst du? Dann kommst du
zurück und wir arbeiten gemeinsam einen Plan aus. Du unternimmst nichts
alleine, sind wir uns da einig?“ Frieda nickte schweigend.
Rudolph brachte seine Enkelin noch mit dem Fahrrad bis an den See.
„Merkwürdig, die Zugbrücke ist schon wieder hochgestellt. Früher war sie
immer unten, wenn der Graf daheim war. Warum ist sie jetzt immer oben?“,
Rudolph fand das sonderbar.
Sie sahen, wie ein LKW mit Baumaterial für die Restauration sich der
Schlossinsel näherte. Der Fahrer stieg ab und pfiff laut durch die
Finger. Daraufhin konnten sie erkennen, wie Willi die Zugbrücke
herunterließ. Kaum aber hatte der LKW die Brücke passiert, bewegte sich
die Zugbrücke wieder in die Luft.
„Das ist doch mehr als sonderbar. Vermutlich wollen die sicherstellen,
dass niemand von der Insel flüchtet“, murmelte Rudolph. Dann gab er
Frieda einen Kuss auf die Stirn „Gib auf dich acht und komm so schnell
du kannst zurück“. Frieda winkte ihm noch dankbar zu. Sodann verschwand
sie im Wald.
Den ganzen Tag über lauerte Rudolph im Graben vor dem Schloss. Er
beobachtete alles, was vor sich ging. Über das Wasser hinweg verfolgte
er, wie am Schloss ein Gerüst aufgestellt wurde, wie Handwerker kamen
und gingen. Jedes Mal, wenn die Maler und Bauleute an- oder abreisten,
wurde nach ihnen die Zugbrücke hochgezogen. Fast so, als ob die Insel
sich gegen Feinde absichern wollte.
Frieda hatte inzwischen den Tunnel passiert und war in den Geheimgang
vorgedungen. Mittels des Magneten hatte sie die angrenzenden Räume durch
die Spione begutachtet. In der Bibliothek hielt sich niemand auf, auch
die Eingangshalle und die Küche waren verlassen. Im Festsaal saß der
Graf mit seiner zukünftigen Braut zu Tisch und wurde von Alma und Elise
bedient. Über das hintere Treppenhaus hatte sie die oberen Räume des
Schlosses bestiegen und alle Zimmer durchsucht. Nichts. Marta war
nirgendwo aufzufinden.
Dann schlich sie in den Keller und fand die beiden Lagerräume so vor,
wie Opa Rudolph sie ihr beschrieben hatte. Als sich Schritte näherten,
krabbelte sie in das unterste Fach eines der Regale. So konnte sie
miterleben, wie Willi mit einem Korb, aus dem etwas Brot und Milch
herausschauten, in den Lagerraum kam. Er stellte den Korb kurz ab. Dann
schob er mit aller Kraft eines der Regale zur Seite und öffnete die
dahinter verborgene Tür. Nach rund fünf Minuten war er ohne Korb zurück,
verschloss die Tür und schob sorgsam das Regal wieder davor. Für Frieda
stand sofort fest, wer sich in diesem Raum befinden musste.
Ihr Drang, ihre Freundin zu befreien, lies sie alles vergessen, was sie
ihrem Opa versprochen hatte. Sie wartete noch wenige Minuten, bevor auch
sie sich dem Regal näherte. Sie wollte es zur Seite schieben, wie sie es
zuvor beobachtet hatte. Doch so sehr sie sich gegen die Regalwand
stemmte, das Regal wollte sich nicht bewegen. Es war einfach zu schwer
für sie. Trotz all ihrer Muskeln, die sie sich bei der Feldarbeit
erarbeitet hatte, konnte nur ein ausgewachsener, starker Mann die
erforderlich Kraft aufbringen, um das Regal zu bewegen.
„Es muss doch auch anders gehen“, sprach sich Frieda Mut zu. Dann begann
sie, schwere Gegenstände aus dem Regal zu räumen. Sie hievte ein dickes
Gurkenglas heraus, dann folgten weitere. Alle Gläser platzierte sie in
den anderen Regalen.
Mit offenen Armen umfasste sie eine Weinkiste, die aber so schwer war,
dass sie ihr aus den Händen rutschte und klirrend auf dem Boden fiel.
Zum Glück verteilten sich die Scherben nur im Karton. Also stellte sie
diesen zur Seite. Allerdings begann nun der Wein aus der zerborstenen
Flasche zu fließen und hinterließ eine dicke rote Lache auf dem Boden.
Dieser Flecken, die immer weiter wuchs, war nicht nur unübersehbar, er
roh auch penetrant.
Frieda hatte keine Zeit zu verlieren. Erneut lehnt sie sich gegen das
Regal und stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Allmählich bewegte sich
das Holzgestellt zur Seite. Sie presste abermals ihre Arme gegen das
Regal, bis die verborgene Tür zum Vorschein kam. Rasch zog sie den
Dietrich aus ihrer Tasche und schloss die Tür auf. Der Raum, der sich
ihr auftat war stockdunkel. Nur das Licht aus dem Lagerraum drang ein
bisschen herein. Doch Marta erkannte ihre Umrisse ihrer Freundin und
rief ihr leise zu „Frieda, Frieda, ich bin hier. Der Lichtschalter ist
rechts direkt neben der Tür.“
Frieda lies sich das nicht zweimal sagen. Im Nu erhellte die Glühbirne
die Folterkammer des Schlosses. Zuerst war Frieda von all den
Foltergeräten geschockt, die sie zu Gesicht bekam. Dann lief sie auf
Marta zu, die noch immer mit Handschellen an dem Eisenring der Wand
befestigt war.
„So bekomme ich dich nicht frei“, flüsterte sie Marta ins Ohr, „ich muss
Hilfe holen“. Sie lief zurück zur Tür, drehte das Licht aus, zog die Tür
ins Schloss, schob das Regal davor und wollte eben den Keller wieder
verlassen, als sie erneut Schritte hörte.
Abermals drückte sie sich unten das unterste Fach eines Regals und zog
einen leeren Kartoffelsack über sich, der arglos hierher geworfen worden
war. Sie hörte jemanden fluchen.
„Was ist dass den für eine
Sauerei? Wer war hier am Regal? Es stinkt hier ja wie in einer
Gastwirtschaft!“
An das, was danach geschah, konnte Frieda sich nicht mehr erinnern. Als
sie wieder zu sich kam, befand sie sich in einem dunklen Raum und alle
ihre Knochen schmerzten.
„Frieda? Hörst du mich?“ Sie erkannte sofort Martas Stimme.
„Marta!“, rief sie aus und nun wusste sie auch, wo sie war. In der
Folterkammer des Schlosses.
Rudolph krabbelte unruhig im Graben vor dem Schloss hin und her. Er
machte sich große Sorgen, da Frieda noch immer nicht zurückgekehrt war.
Die ganze Nacht wachte er und beobachte das gräfliche Anwesen.
Als Frieda am nächsten Morgen nicht auftauchte, war er sicher, dass
etwas Schlimmes passiert sein musste. Es half nichts. Jetzt musste er im
Schloss nach dem Rechten sehen. Die Zugbrücke war noch immer
hochgezogen. Er musste somit den Tunnel benutzen, um ins Schloss zu
gelangen. Schneller als ein aufgescheuchtes Reh lief er durch den Wald.
Dort war von der idyllischen Ruhe, die er hier gewohnt war, aber nichts
mehr zu spüren.
Laute Kettensägen heulten durch das Unterholz. Auch Baumaschinenlärm
drang zu ihm durch. Rudolph lief so schnell er konnte. Erst als er sich
dem Dickicht näherte, durch welches das Gesindehaus erkennbar war, hielt
er inne. Sein Blut gefror in den Adern, als er sah, dass ein Bautrupp
sich dem Gebäude gewidmet hatte und ein Bagger bereits bis ins
Treppenhaus vorgedrungen war. Der Zugang zum Keller, das konnte Rudolph
aus seiner versteckten Position erkennen, war bereits zugeschüttet. Er
würde den Tunnel nicht mehr benutzen können.
Von Sorgen gekennzeichnet kehrte Rudolph in Gedanken versunken zum See
zurück. Warum hatte sich der Graf quasi über Nacht entschlossen, das
Gesindehaus abzureißen? Ganz ohne Grund würde er doch dafür kein Geld
ausgeben.
Er setzte sich auf den kleinen Steg und betrachtete das Schloss, das
mitten im See stand. Als junger Stallbursche war er oft im See
geschwommen. Er wusste, wo der Fluss in den See mündete, wo es zum
Schwimmen zu gefährlich war und war mit allen Begebenheiten vertraut. Um
sicher auf die Insel zu kommen müsste er sich von der Gartenseite her
nähern. Dies hätte auch den Vorteil, dass man ihn nicht sofort von einem
der Fenster des Schlosses erkennen würde.
Er lief um den See, bis er sich auf Höhe des Schlossgartens befand. Dann
zog er Schuhe und Strümpfe aus und watete ins Wasser. In ruhigen Zügen
schwamm er vorwärts, so gut es die Kräfte in seinem hohen Alter
zuließen. Dennoch fühle er sich ausgelaugt, als er am anderen Ufer
ankam.
Wenn er im Schloss keine auffälligen Wasserpfützen hinterlassen wollte,
musste er seine Kleidung trocknen. Auch brauchte er eine
Verschnaufpause.
Schnell huschte er in das Labyrinth, welches er wie seine Westentasche
kannte. Wie viele Stunden hatte er früher damit verbracht, diese
verdammte Hecke zu stutzen? Kein Wunder, dass er da jeden Pfad kannte.
Er erinnerte sich auch, dass sich im Zentrum des Labyrinths eine kleine
Wiese befand, die groß genug war, um sich auszuruhen, aber zugleich
absolut gegen Einblicke Dritter geschützt war. Da es ein sonniger Tag
war, verteilte er dort seine Kleidung über dem Gras, wo sie rasch
trocknete.
Erst als die Dämmerung eintrat, wagte er es, sich dem Schloss zu nähern.
Über das Malergerüst gelangte er in den zweiten Stock. Von dort aus
bestieg er die Treppe im Hinterhaus und erreichte den geheimen Flur.
Entsetzt stellte er fest, dass die Holztür zum Tunnel gewaltsam
aufgebrochen worden war. Nun begriff Rudolph, warum das Gebäude im Wald
so schnell verschwinden musste. Das gesamte Tunnelsystem war
aufgeflogen. Der Graf musste Frieda erwischt haben, als sie das Schloss
betrat.
Rudolph zog seinen Magneten aus der Tasche und schaute durch alle Spione
in die angrenzenden Räume des Schlosses. Da diese aber leer waren,
entschloss er sich, im Keller nach Frieda zu suchen.
Dort roch es penetrant nach Rotwein. Als Rudolph im zweiten Kellerraum
den dicken roten Fleck vor dem Regal sah, erinnerte er sich schlagartig
wieder, was hinter eben diesem Regal verborgen war. Zu lange hatte er
mit Gustav allein im Schloss gelebt, als dass er nicht jedes Geheimnis
des Schlosses entdeckt hatte. Wenn er Frieda hier herausholen wollte,
brauchte er einen guten Plan, das war ihm bewusst, denn sonst säße auch
er bald in der Folterkammer fest.
Vorsichtig eilte er aus dem
Keller ins Freie. Dabei wäre er fast dem Grafen und Willi in die Arme
gelaufen, die im Schatten der Dämmerung seitlich ans Schloss gelehnt
eine Zigarrette rauchten. Allein die brennenden Zigarettenstümmel waren
Rudolph warnend aufgefallen, da sie wie Glühwürmchen herumschwirrten.
Darauf bedacht, nicht das leiseste Geräusch zu erzeugen, pirschte sich
Rudolph hinter den Sträuchern an die beiden heran.
„Wie wollen wir sie denn loswerden“ , fragte Willi. „Lange sollten die
hier besser nicht mehr bleiben, denke ich“.
„Da hast du vollkommen Recht“, Emil zog an der Zigarette. „Wenn die
Maler abgezogen sind, beseitigen wir sie. Vorher ist das zu riskant. All
die vielen Leute hier, die ihre Nasen in Dinge reinstecken, die sie
nichts angehen.“
„Und wie machen wir es dann“, wollte Willi
wissen, „so wie mit deiner ersten Frau?“
„Na, das hat doch prima geklappt. Warum sollten nicht zwei dumme, junge
Gröen auch beim Schwimmen im See ersaufen?“, kam es kaltherzig aus Emil
heraus.
„Wie du willst. Ich besorge dann schon einmal die Tabletten“, ließ ihn
Willi wissen.
Als sie aufgeraucht hatten, gingen beide zurück ins Schloss. Rudolph
hatte genug gehört. Das waren echte Mafioso, mit denen er es zu tun
hatte. Er musste also zügig handeln, solange das Baugerüst noch vor dem
Schloss stand. Das würde nicht mehr allzu lange sein, denn die
Handwerker waren mit ihrer Arbeit schon fast fertig und mussten nur noch
kleinere Ausbesserungen vornehmen.
Rudolph eilte zu den Stallungen. Er liebt die schönen Pferde. Jetzt
standen nur noch zwei Hengste dort, aber zu Hochzeiten des Schlosses,
hatte er hier noch bis zu 10 Pferde eigenständig betreut. Rasch öffnete
er die Boxen und scheuchte die Pferde ins Freie. Dann holte er zwei
Reservekanister mit Benzin aus der Autogarage und goss die Flüssigkeit
großzügig über das Stroh, bevor er dieses anzündete.
„Feuer, Feuer“ rief er in den Schlosshof. Dann verkroch er sich rasch
wieder ins Gebüsch.
Nun ging es Schlag auf Schlag. Die Menschen
rannten aus dem Schloss und es trat Panik ein. Dann wurde eine Schlange
mit Eimern gebildet, die von der Fontäne zum Stall hin führte. Der Graf
eilte in sein Büro, um die Feuerwehr anzurufen. Rudolph hingegen rannte
zurück in den Keller, schob das Regal zur Seite, öffnete die Tür und sah
zwei blasse, hungrige Mädchen auf dem nackten Fußboden liegen. Ihre
Hände waren mit Handschellen an den Eisenringen an der Wand befestigt.
Er zog Frieda eine Haarnadel aus den Haaren und näherte sich Marta. Dann
ergriff er ihre Handschelle und drehte das Schlüsselloch zu sich.
Sorgsam schob er das Drahtende hinein, bog die Nadel im 70 Grad Winkel,
zog sie wieder heraus und führte nun das andere Ende der Nadel in das
Loch und bog auch dieses. Die Haarnadel wies nun die Form eines Kringels
auf. Abermals führte er das gebogene Ende in das Schlüsselloch, denn nun
konnte er die Nadel wie einen richtigen Schlüssel verwenden. Er drehte
die Nadel, wodurch der Verschlussmechanismus angehoben wurde und Martas
Handschelle aufsprang.
„Lauf ins Freie, Marta, versteck Dich, es ist zu riskant, wenn du hier
wartest. Ich mach das schon“. Dann zog er den erstellten
Haarnadelschüssel aus der Handschelle, die Marta hinterlassen hatte und
versuchte hiermit nun auch Friedas Handschelle zu lösen.
Gerade als diese offen sprangen, spürte Rudolph einen schweren Schlag
auf dem Hinterkopf. Stöhnend fiel er zu Boden. Frieda sah auf und
erkannte Willi, der hämisch lachte. Sein Lachen war allerdings nur von
kurzer Dauer, denn erneut ertönte ein Schlag und nun fiel auch Willi auf
sein Gesicht.
„Puh“, Marta streifte sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn. „Das
war knapp. Ich war gerade im Treppenhaus, als ich Willi kommen sah. Also
bin ich in die Küche gesprungen und habe den Schürhaken ergriffen. Dann
bin ich Willi in den Keller gefolgt. Das hat sich doch gelohnt, was
meint ihr?, Marta grinste zufrieden.
„Marta, wir sind noch nicht in Sicherheit“, ermahnte sie Rudolph, der
sich inzwischen wieder vom Boden erhoben hatte, aber noch wackelig auf
den Beinen stand.
„Helft mir hier raus. Wir müssen aus dem Schloss raus“, befahl er.
Rudolph hakte sich bei Frieda ein, während Marta rasch die Tür zur
Folterkammer abschloss, damit Willi ihnen nicht folgen konnte. So
schnell wie möglich eilten sie die Hintertreppe hoch und gelangten ins
Freie.
Dort kündigten heulende Sirenen das Kommen der Feuerwehr an. Unmittelbar
hinter dieser passierte ein Polizeiauto die Zugbrücke zum Wasserschloss.
Frieda hielt es nicht mehr aus. Sie löste sich aus Rudolphs Griff und
rannte so schnell sie konnte auf die Polizisten zu. „Hilfe, hilfe“,
schrie sie.
Doch sie kam nicht weit. Die fleischige Elise hatte
sie ergriffen und warf sie sich mit voller Kraft auf sie, so dass sie
beide auf der Erde landeten. Im nächsten Moment hörten sie das Surren
einer Patronenkugel, die über sie hinweg flog. Dann ertönte ein weiterer
Schuss, dieses Mal aber von der Polizei, die auf den Grafen gerichtet
war.
Emil schwankte leicht, ließ seine Pistole fallen und brach regungslos
zusammen.
„Du hast mir das Leben gerettet“, Frieda drückte die Köchin fest an
sich, während ihr die Tränen liefen.
Binnen kurzer Zeit hatten Feuerwehr und Polizei die Situation unter
Kontrolle. Das Feuer war gelöscht und Willi wurde abgeführt.
Rudolph brauchte noch einen Moment, bis er sich erholt hatte. Dann
erklärte er „Ich gehe davon aus, dass Willi, der Gärtner, jener Berliner
Beamte ist, der seinerzeit die Falscheintragung ins Register vorgenommen
hat. Er und der falsche Graf haben gemeinsame Sache gemacht, um sich das
Schloss mit gefälschten Papieren zu eigen zu machen, dessen bin ich mir
sicher“.
„Und wer wird nun der künftige Graf auf dem Schloss sein“, wollte Marta
wissen.
„Nun“, sagte der Polizist, „wir werden das prüfen.“
„Ich würde gerne weiter auf dem Schloss arbeiten“, gestand Marta, „aber
nur, wenn bei wirklich netten Adligen. Sonst gehe ich lieber mit Frieda
aufs Feld.“
„Wer weiß, wer weiß“, scherzte Frieda. „Vielleicht
heiratest Du den neuen Garfen und wirst selbst die Gräfin“.
Bei diesem Gedanken mussten sie alle herzhaft lachen.